Von Ralf Keuper

Bei der Zivilgesellschaft handelt es sich nach Ernest Gellner um ein relativ neues historisches Phänomen. Allzu häufig wird die Zivilgesellschaft mit der Demokratie gleichgesetzt, was ihrer Bedeutung jedoch nicht gerecht wird.

Gellner gibt in seinem Buch Bedingungen der Freiheit einen historischen Überblick über die verschiedenen Gesellschafts- und Regierungsformen von der Antike bis in unsere Zeit. Großen Raum nehmen die islamischen Gesellschaften ein, wobei er sich, ähnlich wie Abulkader Irabi in Arabische Soziologie. Studien zur Geschichte und Gesellschaft des Islam, auf Ibn Kahldun bezieht.

Besonders aufschlussreich ist das Kapitel Demokratie oder Zivilgesellschaft. Über den Denkfehler, Demokratie mit Zivilgesellschaft gleichzusetzen, schreibt Gellner:

Aber das demokratische Modell übersieht im allgemeinen die Tatsache, dass Institutionen und Kulturen Entscheidungen vorangehen, statt auf sie zu folgen. Das gilt zumindest für die grundlegenden Optionen. Die Demokratie ist vielleicht wie der Markt ein ausgleichendes Verfahren, innerhalb einer übergreifenden festen Struktur relativ unwichtige Entscheidungen zu treffen, aber es kann ihr nicht ohne Zirkularität und Absurdität die Fähigkeit zugeschrieben werden, zwischen gesellschaftlichen Gesamtstrukturen oder Wertesystemen zu entscheiden. Es verhält sich eher so: Einige präexistierende Strukturen enthalten ein “demokratisches” Verfahren zur Regelung untergeordneter Fragen. Die Nichtanwendbarkeit des demokratischen Modells auf wichtige Fragen, ist kein technisches, sondern ein logisches Argument. … Es geht nicht darum, dass wichtige Probleme mit dieser Methode weniger gut zu lösen sind, sondern es ist einfach sinnlos, sich vorzustellen, dass sie gelöst werden könnten. Unsere Kultur bestimmt unsere Identität. Wer genau soll also eine Kultur wählen, wenn es noch kein Selbst, keine Identität, keine Weitsicht und kein Wertesystem gibt, die die Wahl treffen würde. .. Die naiven Formulierungen des demokratischen Ideals trennen es von seinen institutionellen und kulturellen Voraussetzungen und legen implizit nahe, dass es für die Menschheit als solche Gültigkeit habe.

Aus diesem Grund gibt Gellner der Zivilgesellschaft den Vorzug, weil sie totalitären Tendenzen gegenüber widerstandsfähiger ist. Ohne funktionierende Zivilgesellschaft kann es auch keine echte Demokratie geben:

Obwohl als “Demokratie” durchaus dazu gehört, sind es doch die Institutionen und der soziale Kontext, die sie erst möglich und wünschenswert machen, worauf es wirklich ankommt. Ohne diese institutionellen Vorbedingungen, ist “Demokratie” ein verschwommener Begriff und kaum realisierbar. Wenn der Begriff einfach nur als Deckname für diese Institutionen benutzt wird, dann kann das natürlich nichts schaden. Aber weil es diese institutionellen Vorbedingungen und den notwendigen historischen Kontext betont, ist “Zivilgesellschaft” wahrscheinlich ein besseres, erhellenderes Schlagwort als Demokratie.

Wodurch zeichnet sich die Zivilgesellschaft aus? Da wäre zum einen der technologische Fortschritt:

Eine Gesellschaft, die an eine expandierende Technologie gefesselt ist und folglich an eine expandierende kognitive Grundlage, kann ihre Wahrnehmung der Welt nicht verabsolutieren oder einfrieren. Eine solche Gesellschaft bekommt ein Gespür für die Unabhängigkeit der vernunftgemäßen Wahrheit von der Gesellschaft, und es fällt ihr schwer, die Idee einer eindeutigen und endgültigen Offenbarung ernst zu nehmen. Ihre hochentwickelte Fähigkeit zu alternativen Konzeptualisierungen desselben Gegenstands und ihr Gespür für die Trennbarkeit von Sachverhalten macht es ihr schwer oder unmöglich, sich eine Weltsicht zu eigen zu machen, die eine autoritative Zuweisung von Rechten und Pflichten und zugleich die Rechtfertigung solcher Zuschreibung impliziert.

Wichtigstes Merkmal der Zivilgesellschaft ist jedoch der Pluralismus:

Die Gesellschaft braucht Wirtschaftspluralismus für produktive Effizienz, und sie braucht gesellschaftlichen und politischen Pluralismus, um exzessiv zentralistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Vor allem aber macht sie sich gesellschaftlichen und politischen Pluralismus zunutze, aber einer besonderen, modularen, ad hoc Art, die den Individualismus nicht erstickt und zugleich als ein Gegengewicht zum Zentrum wirkt. Das Majoritätsprinzip oder repräsentative Institutionen, die die Gleichheit der Bürger durch das gleiche Wahlrecht symbolisieren, stellen einen wichtigen Beitrag dazu dar, aber sie sind nicht das Wesentliche. Wesentlich ist vielmehr die Abwesenheit sowohl eines ideologischen wie eines institutionellen Monopols. Keine einzige Lehre wird geheiligt und exklusiv mit der Gesellschaftsordnung verbunden. Machtpositionen werden turnusmäßig gewechselt wie alle anderen auch und sind nicht mit unmäßigen oder auch nur besonders hohen Belohnungen verbunden.

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