Von Ralf Keuper

In die Kritik an der Ökonomie mischen sich immer wieder Stimmen, die am Beispiel der Naturwissenschaften den wissenschaftlichen Gehalt der etablierten ökonomischen Modelle in Zweifel ziehen – nicht ganz zu Unrecht.

Übersehen wird dabei allerdings gerne die Tatsache, dass auch in den vermeintlich objektiven Naturwissenschaften der Maßstab dafür, was als objektiv wahr gilt, den Schwankungen des Zeitgeistes ebenso unterworfen ist wie die Erkenntnisse anderer Disziplinen. Darauf machte bereits vor fünfzig Jahren Thomas S. Kuhn in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen aufmerksam. Ein vergleichbares Werk steht für die Ökonomie noch immer aus.

Zumindest was die kritische Reflexion der eigenen Tätigkeit anbelangt, sind die Naturwissenschaften den Wirtschaftswissenschaften also weit voraus.

Einige Zeit vor Thomas Kuhn kam der Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Ausschlaggebend für den „Erfolg“ wissenschaftlicher Theorien waren für Fleck >Denkstile<, denen sich die Mehrzahl der Fachleute wie auch seiner Vermittler verpflichtet fühlen. Es sind demnach soziale Faktoren, die dafür sorgen, dass bestimmte Ansichten den Weg in die wissenschaftliche Gemeinschaft und in die Öffentlichkeit finden, um sich dort für lange Zeit festzusetzen. Es bedarf tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, damit ein neuer Denkstil an die Stelle des alten treten kann. Die Resistenz des wissenschaftlichen Mainstreams gegen Veränderungen in der äußeren Umwelt darf daher nicht unterschätzt werden, zumal er auf einige bewährte Tricks zurückgreifen kann, wie Fleck in seinem Buch Denkstile und Tatsachen am Beispiel der Naturwissenschaften veranschaulicht.

Von ähnlichen Gebrechen sind die auch die Wirtschaftswissenschaften geplagt – man denke nur an die Theorie effizienter Finanzmärkte, die „unsichtbare Hand“ oder an den „Homo Oeconomicus“, den der große Historiker Marc Bloch bereits vor etlichen Jahrzehnten als ein Wesen aus dem Reich der Fabel entlarvte. Zur selben Kategorie zählt der Glaube an den freien Markt, dessen segensreiche Wirkungen, überspitzt formuliert, nur dann ausbleiben, wenn der Staat in den Wirtschaftskreislauf eingreift. Auf diese Weise lässt sich eine Theorie vortrefflich gegen Kritik immunisieren, da sich immer eine Aktion des Staates finden lässt, die der natürlichen „spontanen“ Ordnung im Weg steht  – so sehr kann sich ein Staat gar nicht aus dem Wirtschaftskreislauf zurückziehen, als dass dieses Argument nicht gegen ihn vorgebracht werden könnte. Das hat eher etwas von Metaphysik oder einer Offenbarungs-Wahrheit als von seriöser Wissenschaft.

Es ist der Glaube an jene „absoluten Wirklichkeiten“, der den Wirtschaftswissenschaften den Blick für die Abhängigkeit der eigenen Modelle von den Zeitumständen versperrt.

Damit ein wissenschaftlicher Denkstil die Vorherrschaft erringen und behaupten kann, bedarf es über die Gemeinschaft der Forscher bzw. Fachleute hinaus der Vermittlung in die breite Öffentlichkeit. Diese Rolle übernehmen in unserer Zeit Wirtschaftsjournalisten, Forschungsinstitute, Wissenschaftliche Zeitschriften, Blogger und nicht zuletzt die sog.  >Analysten<, die zusammen ein >Denkkollektiv< bilden. Der nach wie vor dominierende Denkstil in der Ökonomie, oft verkürzt als Neo-Liberalismus bezeichnet, kann sich auf ein solides Netzwerk bzw. >Denkkollektiv<  in Politik, Wirtschaft und (Soziale) Medien stützen, wenngleich die nachdenklichen Stimmen zunehmen. Der kritische Punkt für ein Umdenken ist noch nicht erreicht. Zu tief, vielleicht nur auf einer unbewussten Ebene, sitzt noch der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes, effiziente Märkte und an den Shareholder Value – an, um mit Ludwik Fleck zu sprechen: „Absolute Wirklichkeiten“, die unabhängig vom Menschen sind.

Stattdessen sollte man sie als sozial bedingt auffassen und damit im wahrsten Sinne des Wortes menschlich und demokratisch gestalten.

Ein auch für die Ökonomie gangbarer Weg. Die digitale Öffentlichkeit, vielleicht auch die „liquid democray“, könnten die Wegbereiter sein.

Alles in allem täte der Ökonomie mehr Bescheidenheit gut, die sich der Einsicht verdankt, dass auch ihre Erkenntnisse oder „Tatsachen“ nur von begrenzter Dauer und lediglich ein Produkt ihrer Zeit sind – nicht mehr und nicht weniger.

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