Von Ralf Keuper
Hin und wieder überkommt einen der Verdacht, als würde in der deutschen Politik Hegels Gedankenwelt im Hintergrund die Regie führen. Demnach stellt der Weltgeist, der in der Geschichte nach Ausdruck verlangt, Deutschland vor Aufgaben, die zu bewältigen einzig der deutsche Genius in der Lage ist. Da gibt es dann kein Sowohl-als-auch, sondern nur noch ein Entweder-Oder. Alles andere ist ein fauler Kompromiss, eine Verweigerung der historischen Mission, ein Zeichen von Seinsvergessenheit. Welche Vorteile diese Mission, auch für die anderen Länder, haben soll, ist indes nicht immer klar; häufig bleibt es nebulös. Schnell treten Durchhalteparolen an die Stelle politischer Strategien. Eine ähnliche Situation hatten wir in Deutschland am Vorabend des 1. Weltkriegs.
Die Haltung der deutschen Regierung im Kaiserreich beschrieb Sebastian Haffner einmal so: 

Wofür wollte Deutschland in seiner großen Epoche die Welt verändern? Was sollte Europa von dem deutschen 20. Jahrhundert Neues, Wichtiges, Besseres empfangen? Es gab keine Antwort. Macht um der Macht willen, Herrschaft um der Herrschaft willen – >weil wir jetzt dran sind< – >weil wir die Stärkeren sind<: das ist keine Legitimation. Das erweckt nichts als Widerstand und Hass. Damit ist kein Weltreich zu gründen (in: Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im 1. Weltkrieg)

Mögen einige politische Entwürfe sich in der Theorie als undurchführbar erweisen, so obliegt es der deutschen Gründlichkeit diesen Beweis auch in der Praxis anzutreten; sonst macht es nämlich keiner – vielleicht aus gutem Grund?

Karl Popper 
führte die Anfälligkeit der deutschen Eliten, und das durch alle politische Lager, für überspannte Politikentwürfe auf die Zeit unmittelbar vor 1848 und die Abkehr von Kant hin zu Hegel zurück:

Die Deutschen standen schon vor 1848 vor einer Entscheidung: Kant oder Hegel? Sollen wir den Frieden wählen, oder die Macht des Staates? Zu ihrem Unglück wählten sie Hegel und das Gerede. Das konnte man mit geringerer Anstrengung erlernen. (in: Die Welt im Gespräch mit dem Philosophen Sir Karl Popper, Sonderdruck Februar 1990)

Später war es Max Weber, der den Regierenden dringend empfahl, das richtige Augenmaß zu bewahren, worauf Wolf Lepenies erst kürzlich in Für Europa ist Deutschland ein moralischer Parvenü hinwies. 

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