Von Ralf Keuper

Mit der Phänomenologie begründete der Philosoph Edmund Husserl eine der einflussreichsten Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts.  Für ihn musste das wahrnehmende und beschreibende Bewusstsein um die Interpretation ergänzt werden, um zur Wahrheit vorstoßen zu können. Kurzum: Von den bloßen Worten über die Anschauung zu den Sachen selbst. Obwohl selbst Naturwissenschaftler, kritisierte Husserl den Universalanspruch der modernen Wissenschaften, da bei ihnen nur die vermeintlich objektiven Ergebnisse zählen, während der Erkennende selbst mit seinen Voraussetzungen unbeachtet bleibt. Nicht was wir erkennen ist wichtig, sondern wie wir es erkennen. Sobald wir über die objektiven Ergebnisse unserer Untersuchungen reflektieren, verfangen wir uns in einem Netz aus Widersprüchen. Zuletzt gewinnt die eigene, ursprüngliche Absicht die Oberhand und das Ergebnis fällt wie erwartet aus bzw. wird so interpretiert.

Entscheidend ist daher die Frage, über welche intellektuellen Voraussetzungen wir verfügen, wenn wir forschen. Husserl verwendet dafür den Begriff der Reduktion, wonach alles Subjektive, alle Annahmen, Hypothesen und Traditionen ausgeblendet werden müssen, um zum wahren Kern der Sache vorstossen zu können. Wir sind nicht im Besitz einer geistigen Erstausstattung, über die wir frei verfügen können, sondern fangen immer wieder von vorne an. Erkenntnis ist für Husserl ein psychisches Erlebnis.

Husserls Phänomenologie übte auf vieler seiner Zeitgenossen eine große Anziehung aus, wie auf seinen Meister-Schüler Martin Heidegger, der ihm sein Hauptwerk Sein und Zeit widmete, was Heidegger allerdings nicht veranlasste, in seiner Funktion als Rektor der Universität Freiburg der Absetzung Husserls durch die Nazis zu widersprechen oder überhaupt einen Finger für ihn zu rühren. Später wurde Husserl aus seiner Wohnung geworfen, die Deportation ins KZ konnte nur durch die Intervention einiger Freunde, wie Walter Eucken, verhindert werden. Gedemütigt und gebrochen starb Husserl 1938 in Freiburg.

Großen Einfluss übte Husserls Phänomenologie auf den Existentialismus Martin Heideggers und Jean-Paul Sartres aus, ebenso wie auf die Gestaltpsychologie und die Theologie. Aber auch in der Ökonomie, in Gestalt des Ordoliberalismus von Walter Eucken, hat die Phänomenologie Spuren hinterlassen.

Von nach wie vor ungebrochener Aktualität ist Husserl Denken für die moderne Wissenschaft, die sich immer wieder die Frage nach ihren eigenen, unhinterfragten Voraussetzungen und Überzeugungen stellen muss, will sie überhaupt Wissenschaft im ursprünglichen Sinn sein. Das verbindet die Phänomenologie u.a. mit Ludwik Fleck, Thomas S. Kuhn, Karl Popper, Paul Feyerabend u.a.

Die Beziehung bzw. geistige Verwandschaft zwischen dem Denken Edmund Husserls und dem von Walter Eucken und dessen Vater Rudolf beschreibt das Buch Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft. Edmund Husserl – Rudolf Eucken – Walter Eucken – Michel Foucault aus dem Jahr 2009.

Weitere Informationen:

Philosophie als strenge Wissenschaft

Jacques Derrida: Das Problem der Genese in Husserls Philosophie

Schreibe einen Kommentar