Von Ralf Keuper

Das Thema Mindestlohn schlägt derzeit hohe Wellen. Für die einen sind Mindestlöhne das Mittel zur Herstellung der sozialen Gerechtigkeit, für die anderen führen sie gar zur Zerstörung der Marktwirtschaft.

Zeit daher, sich die Positionen ein wenig näher anzusehen.

Beginnen möchte ich mit der Position, die ich der Vereinfachung halber, als ordoliberal beschreiben möchte.

So fährt Norbert Berthold im Blog Wirtschaftliche Freiheit schweres Geschütz auf, wenn er in seinem Beitrag  behauptet, die flächendeckende Einführung gesetzlicher Mindestlöhne in Deutschland zerstöre die Marktwirtschaft. 
Als Argument führt er an, dass die meisten Niedriglöhner nicht allein, sondern in Familien leben und deshalb das Familieneinkommen für verteilungspolitische Fragen ausschlaggebend ist. Auch liege das Einkommen der Haushalte, in denen Niedriglöhner leben, in den meisten Fällen oberhalb der Armutsgrenze. 
Das Paradigma monopsonistischer Arbeitsmärkte, das häufig für die Einführung von Mindestlöhnen plädiert, sei empirisch ohne Belang, weshalb die Ergebnisse wettbewerblicher Arbeitsmärkte weiterhin relevant seien. Warum die Ergebnisse der monopsonistischen Arbeitsmärkte ohne Belang sind, gibt er nicht näher an. 

Zum Schluss holt Berthold noch einmal aus und gibt zu bedenken, dass bei der Einführung gesetzlicher Mindestlöhne die Chancen der Schwächeren, einen Arbeitsplatz zu finden, schwinden, wie sie überhaupt ein Anschlag auf die marktwirtschaftliche Ordnung sind. Die Preisbildung privater Märkte wird damit unterlaufen. 

Ähnlich wie Berthold, wenngleich nicht in der Schärfe, argumentieren Marcus Dittrich und Andreas Knabe in ihrem Beitrag in der Ökonomenstimme
Als entscheidendes Argument gegen die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne führen sie Kalai-Smordinsky-Lösung ins Feld, woraus sie schließen, dass selbst vergleichsweise niedrige Mindestlöhne zu negativen Beschäftigungseffekten führen.

Der Pixelökonom verweist auf den Beitrag seines nach eigenem Bekunden Lieblings-VWL-Profs auf Youtube. Dort erklärt uns dieser u.a. anhand der klassischen Angebots-Nachfragekurve die seiner Meinung nach durchweg negativen Effekte gesetzlicher Mindestlöhne. Die Einführung von Kombilöhnen wäre seiner Ansicht nach der bessere Weg. 


Die Befürworter gesetzlicher Mindestlöhne weisen immer wieder darauf hin, dass Deutschland zu den wenigen Ländern in der EU gehört, die über keinen gesetzlichen Mindestlohn verfügen, wie Frank Oschimansky. So sind inflationsbereinigte Mindestlöhne in den Niederlanden bereits seit 40 Jahren gesetzlich festgeschrieben, ohne dass negative Beschäftigungseffekte drauf zurückzuführen sind. Derzeit beträgt der Mindestlohn in den Niederlanden laut DGB bei 8,96 Euro pro Stunde, was über den für Deutschland geforderten 8,50 Euro liegt. 
Empirische Studien in den USA, Großbritannien und anderen EU-Ländern ergaben keine Beschäftigungsverluste durch Mindestlöhne. Weiterhin fanden vier vom Bundesministerium für Arbeit beauftragte Forschungsinstitute im Herbst 2011 heraus, dass die bereits bestehenden Mindestlöhne weder Arbeitsplätze vernichtet noch den Wettbewerb verzerrt haben.

Auf die Aussage des Präsidenten des ZEW und sog. Wirtschaftsweisen Wolfgang Franz, in kaum einem anderen Sachverhalt bestehe in der VWL so viel Einigkeit wie über die schädlichen Auswirkungen von Mindestlöhnen, verweist Oschimansky darauf, dass die Ökonomen anderen Länder mehrheitlich für eine Erhöhung der Mindestlöhne plädieren. 

Gerhard Bosch setzte sich bereits im Jahr 2007 in einem Beitrag mit dem Thema Mindestlohn auseinander. Darin macht er sich für die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne stark. 
Bosch geht davon aus, dass ohne Lohnuntergrenzen der Niedriglohnsektor weiter wachsen wird und die Beschäftigten damit in eine Niedriglohnfalle geraten, aus der sich nicht entkommen können. Auch führen fehlende Lohnuntergrenzen zu sittenwidrig niedrigen Löhnen, die nicht einmal in  Großbritannien und den USA geduldet würden. Dadurch werden Monopolrenten von Unternehmen und ungesunde Wettbewerbsstrukturen gefördert. Eine geringe Produktivität der Beschäftigten würde dadurch nicht ausgeglichen. 

Aus theoretischen Modellen lassen sich für ihn weder positive noch negative Auswirkungen von Mindestlöhnen auf die Beschäftigung ableiten. Daraus folgt für ihn, dass in bestimmten Marktkonstellationen durchaus Gestaltungsspielräume existieren, wobei er sich u.a. auf die Arbeiten von Alan Mannig stützt. Weiterhin haben Forschungen gezeigt, dass Handlungsspielräume für die Einführung von Mindestlöhnen bestehen, womit sich die Schieflage auf dem deutschen Arbeitsmarkt beheben lassen. Inzwischen habe das Niveau der Mindestlöhne in unseren Nachbarländern mit vergleichbarem wirtschaftlichem Entwicklungsstand ein Niveau von (im Jahr 2007) knapp über 8 Euro erreicht, was er für einen Orientierungspunkt hält. Mit Blick auf Ostdeutschland rät allerdings auch er von einer Anpassung in einem Schritt ab. 

Ein aktueller Beitrag auf freitag plädiert ebenfalls für die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne. 
Dabei werden Zahlen aus dem Mikrozensus der Bundeszentrale für Politische Bildung zitiert, wonach 2007 2,7 Prozent der mehr als 39 Millionen Haushalte von weniger als 500 Euro leben. 10.8 Prozent haben laut der Erhebung ein monatliches Budget von 500 bis 900 Euro zur Verfügung, 30,7 Prozent konnten demnach ein Einkommen zwischen 900 bis 1.700 Euro monatlich verbuchen. 
Von einer Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro würde vor allem Alleinerziehende und Familien mit Kindern profitieren. 
Was in dem Zusammenhang allerdings der Link auf Qiwik zu suchen hat, erschließt sich mir nicht. 

Resümee

In der Diskussion um den Mindestlohn prallen verschiedene Ideologien aufeinander. Überzeugen kann letztlich keine, was für mich einmal mehr zeigt, dass die Ökonomie zur Beantwortung gesellschaftspolitischer Fragen nur bedingt tauglich ist. 
Wie einige Artikel zeigen, hängen insbesondere die Vertreter der ordoliberalen Schule nach wie vor dem Modell-Platonismus nach Hans Albert (Vgl dazu auch Helge Peukert) an. Nicht ganz zu Unrecht weist Gerhard Bosch in seinem Beitrag darauf hin, dass sich Fragen von der Tragweite der Einführung eines Mindestlohn nicht am Schreibtisch entscheiden lassen, sondern empirisch untersucht werden müssen.
Mit den guten alten Nachfrage/Angebots-Kurven, die lediglich auf Annahmen beruhen, und (idealtypischen) verhandlungstheoretischen Modellen lässt sich das Problem nicht bzw. nur verzerrt erfassen. 

Der Verweis von Norbert Berthold auf die Familieneinkommen ist auf den ersten Blick plausibel, wird aber durch die Zahlen des Mikrozensus der Bundeszentrale für politische Bidlung zumindest relativiert. Die Einführung von Kombilöhnen besitzt ebenfalls einigen Charme, der bei näherer Betrachtung jedoch nachlässt. 
Wäre es zutreffend, wie Berthold prophezeit, dass die Einführung von Mindestlöhnen die Marktwirtschaft zerstört, dann müssten die von den Marktliberalen ansonsten so gelobten Länder Großbritannien und USA kurz vor der Vollendung der Planwirtschaft stehen.  
Auch begehen die Vertreter der ordoliberalen bzw. neoklassischen Schule nach wie vor den Fehler, die Wirtschaft als geschlossenes System zu verstehen. Diese verkürzte und überholte Sicht kann den Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bzw. Systemen wie Recht, Institutionen, Normen und Werte nicht gerecht werden. Ein Punkt, auf den Gerhard Bosch u.a. am Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich hinweist. 
Damit ist nicht automatisch gesagt, dass der Mindestlohn die in ihn gesetzten Erwartungen der Befürworter erfüllen wird. Die Erfahrungen der Länder mit Mindestlöhnen sprechen zunächst einmal gegen die schlimmsten Befürchtungen, die von einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen sprechen oder gar das Ende der Marktwirtschaft beschwören. 
Letztlich ist es eine Frage, die sich modelltheoretisch wie überhaupt ökonomisch nicht eindeutig lösen lässt. 

Das fällt eher in das Gebiet der Ethik, wie es überhaupt in die Frage mündet, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Dass diese nicht das Paradies auf Erden und auch dort keine Gerechtigkeit im idealen Sinne verwirklicht sein wird, ändert nichts daran, dass wir uns in bestimmten Fragen zu Werten bekennen müssen, die sich in einer Demokratie, die unserem derzeitigen Verständnis entspricht, niemals allein ökonomisch werden begründen lassen. Dazu gehört auch, ob man mit seinem ehrlich verdienten Lohn ein einigermaßen anständiges Leben führen kann. Dafür ist der Mindestlohn vielleicht nicht das allein selig machende, zumindest aber ein in den letzten Jahrzehnten empirisch erprobtes Mittel. Die Ergebnisse geben eher zu vorsichtigem Optimismus als zu übertriebenem Pessimismus und Kassandra-Rufen Anlass.  
Fragen dieser Tragweite, das sei nochmals erwähnt, dürfen wir nicht allein den Ökonomen überlassen. Jedenfalls sollte wenigstens das eine Lehre der letzten Jahre sein. 

Gerhard Bosch zitiert in seinem Beitrag zum Schluss aus einer Rede, die Winston Churchill 1909 im House of Commons gehalten hat. Für Bosch ein Plädoyer für die Tarifautonomie, die, wie häufig befürchtet wird, durch einen Mindestlohn nicht untergraben wird:  

In den Wirtschaftsbereichen mit starken Organisationen auf beiden Seiten mit verantwortungsvollen Führern, die ihre Anhängerschaft auf Entscheidungen verpflichten können (…), finden wir eine gesunde Verhandlungssituation, die die Wettbewerbskräfte des Wirtschaftszweiges stärken, den Lebensstandard und die Produktivität verbessern und Kapital und Arbeit aneinander bindet. Aber in den ,sweated trades‘ gibt es keine solchen starken Organisationen, keine Egalität der Verhandlungsmacht, und der gute Unternehmer wird von dem schlechten Unternehmer unterboten, der Schlechte von dem noch Schlechteren“ (zitiert nach Finn 2005: 11).

Weitere Informationen: “Die Blindgänger. Warum Ökonomen auch künftige Krisen nicht erkennen werden” von Lisa Nienhaus, “Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft” von Hans Küng, Das Ende der Wohlfahrtsökonomik. Die Überwindung des Ökonomismus durch logische Analyse der ökonomischen Sprache 

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