Von Ralf Keuper

Der Film Harry Graf Kessler – Der Mann, der alle kannte handelt von einer der schillerndsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Die Tagebücher von Harry Graf Kessler zählen zu den wichtigsten und stilistisch brillantesten des vergangenen Jahrhunderts, für einige sogar zu den größten ihrer Art überhaupt.

Aufgewachsen in einer ausgesprochen großbürgerlichen Umgebung, sein Vater war ein erfolgreicher Hamburger Bankier, seine Mutter entstammte dem irischen Adel, durchlief er eine auch für seine Zeit und Umgebung ungewöhnliche Ausbildung. Im Haus seiner Mutter verkehrte die hohe Gesellschaft von Paris, ihre extravaganten Salons waren ebenso legendär wie ihr Privattheater.

Nach dem Besuch der rennommierten St. Georges School in Ascot und dem Johanneum in Hamburg studierte er in Bonn und Leipzig. Während dieser Zeit machte sich die Unabhängigkeit seines Denkens bereits bemerkbar. Finanziell bestens ausgestattet, begab sich Kessler nach dem Studium auf eine ausgedehnte Reise, die ihn durch die USA, China, Japan, Ägypten und Mexiko führte. Die Eindrücke seiner Mexiko-Reise hielt er in dem Buch Notizen über Mexiko fest, das noch heute aufgelegt wird.

Seit seiner Kindheit schon sehr der Kunst zugetan, gründete er zusammen mit Eberhard von Bodenhausen die Kunstzeitschrift PAN, deren Programm die Rettung des Individuums in der Massengesellschaft war. Kessler reiste häufig nach Paris, um dort mit den führenden Künstlern, wie Auguste Rodin, zusammenzutreffen. Daneben war er auch regelmäßiger Gast in diplomatischen Zirkeln. Sein Gespür und seine Begeisterung für neue Kunstrichtungen führte u.a. dazu, dass er den Impressionismus in Deutschland bekannt machte. Einer der bekanntesten Künstler, der von seiner Großzügigkeit profitierte, war Edvard Munch, der ihn auch portraitierte.

PAN wurde nach wenigen Jahren wegen zu hoher Kosten eingestellt. Dennoch führte Kessler seinen Kampf gegen die Wilhelminische Kunstauffassung unermüdlich weiter.

Fixstern seines Denkens war Friedrich Nietzsche, den er selbst mehrmals besuchte. Fasziniert war er dabei weniger von Nietzsches Philosophie oder Poesie, als vielmehr von der Person selbst, die Kesslers ästhetischem Ideal, dem Typus des geistig vornehmen Menschen im Zeitalter der Demokratisierung, besonders nahe kam. Nach dem Tod Nietzsches war Kessler einer der Mitbegründer des Nietzsche-Archivs in Weimar. Weimar wurde sein neuer Lebensmittelpunkt. Sein Freund Henry van der Velde wurde Direktor der Kunstschule, aus der dann später das Bauhaus hervorging. Kessler träumte von einem neuen Weimar. Als Museumsdirektor erwarb er so ziemlich alles, was in Berlin unter Wilhelm II nicht angesagt war. In diese Zeit fällt auch die Entdeckung des frühen Max Beckmann. Durch seine unkonventionelle Art machte sich Kessler einflussreiche Feinde, deren prominentester Wilhelm II. war.

Mit Max Liebermann, Hugo von Hofmannsthal und anderen gründete Kessler den deutschen Künstlerbund. Sein wachsender Erfolg machte ihn zunehmend unvorsichtig und unbeherrscht, was zum sog. Rodin-Skandal führte, der zu seiner Entlassung als Museumsdirektor führte.

Danach wandte er sich wieder gen Paris, wo er intensiven Kontakt mit dem Künstler Aristide Maillol und dem legendären Ballets Russes hatte.

Im ersten Weltkrieg entpuppte sich Kessler trotz seiner kosmopolitischen Lebensweise und Herkunft als glühender Patriot und diente als Rittmeister zunächst an der Ostfront, später an der Westfront, wo er vor Verdun einen Nervenzusammenbruch erleidet. Darauf setzt er seinen Dienst in der Schweiz fort.

Die Niederlage empfand auch Kessler wie viele andere seiner Landsleute als Katastrophe. In den politischen Wirren nach dem Abritt von Kaiser Wilhelm II wandte Kessler sich politisch nach links und engagierte sich für die neue Republik – ein Umschwenken, wie bei keinem anderen Künstler oder Politiker seiner Zeit. Fortan galt er  als roter Graf, Freunde rückten von ihm ab.

Auf der politischen Bühne setzte er sich zusammen mit Walter Rathenau für den Völkerbund und für eine Rückkehr Deutschlands in die Völkergemeinschaft ein. Nach dessen Ermordung verfasste Kessler eine Biographie über Rathenau, die noch heute eine wichtige historische Quelle ist. Während der 20er Jahre engagierte er sich weiter in der Politik u.a. in England und den USA, wo er für ein Eingreifen beider Länder zugunsten Deutschlands in der Frage der Reparationszahlungen warb. Zusammen mit Albert Einstein machte er sich für den Pazifismus stark.

Sein letzte geschäftliche Unternehmung, die Cranach-Presse, musste er aus wirtschaftlichen Gründen einstellen.

Den Zusammenbuch der Weimarer Republik erlebte er mit wachem Blick, unterschätzte jedoch Hitler.

Eher zufällig ließ er sich in Palma de Mallorca nieder, von wo er wegen finanzieller Schwierigkeiten zu seiner Schwester in die Nähe von Lyon zog. Dort starb er 1937, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Den Mann, der alle kannte, kannte zum Schluss kaum noch jemand.

Um so größer ist seine Wirkung in der Nachwelt.

Weitere Informationen:

Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880 – 1937 (NDR Sachbuchpreis)

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