Von Ralf Keuper

Die Zahl der Veröffentlichungen, die sich mit der gesellschaftlichen Funktion des Vertrauens beschäftigen, ist in letzter Zeit sprunghaft angestiegen.

Das Thema schafft es sogar auf die Titelblätter, wie bei dem Wirtschaftsmagazin brand eins, das in seiner aktuellen Ausgabe der Frage nach dem Stellenwert des Vertrauens in der Wissensgesellschaft nachgeht.

Fast alle Bereiche der Gesellschaft und Wirtschaft sind von einem Vertrauensverlust betroffen. Die Banken, die Politik, die Medien, das Geldsystem, die Kirchen, die Wissenschaft, die Internetkonzerne …

Wenn ein Thema so sehr die öffentliche Diskussion dominiert, ist das nicht selten ein Hinweis auf tieferliegende Probleme, für die ein Begriff herhalten muss. Damit einher gehen Erwartungen, die weit über das hinausgehen, was dieser Begriff überhaupt zu leisten imstande ist.

Eine gesunde Skepsis ist daher angebracht.

Die Historikerin Ute Frevert erkennt in der Beschäftigung mit dem Thema Vertrauen daher auch nicht ganz zu Unrecht eine Obsession der Moderne. Vertrauen, das moralisch überfrachtet wird, kann schnell in Misstrauen umschlagen, das sich dann nur noch schwer ausräumen lässt. Insofern sollte man sparsamen Gebrauch davon machen; gerade in der Politik. Sätze wie: “Minister xy genießt das volle Vertrauen des Regierungschefs” gelten unter Insidern als sicheres Indiz dafür, dass die Tage des betreffenden Ministers in der Regierung gezählt sind.

Niklas Luhmann interpretierte Vertrauen als einen Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität.

Wo es Vertrauen gibt, gibt es mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, steigt die Komplexität des sozialen Systems, also die Zahl der Möglichkeiten, die es mit seiner Struktur vereinbaren kann, weil im Vertrauen eine wirksame Form der Reduktion von Komplexität zur Verfügung steht (in: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität).

Auch das technische Zeitalter bleibt, so Luhmann, auf das Vertrauen angewiesen:

Demnach ist es nicht zu erwarten, dass das Fortschreiten der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation die Ereignisse unter Kontrolle bringen und Vertrauen als sozialen Mechanismus durch Sachbeherrschung ersetzen und so erübrigen werde. Eher wird man damit rechnen müssen, dass Vertrauen mehr und mehr in Anspruch genommen werden muss, damit technisch erzeugte Komplexität der Zukunft ertragen werden kann (ebd.).

Diese Aussage bildet zunächst einen Kontrast zu den Erwartungen, welche die sog. Bitcoin-Evangelisten mit den digitalen Währungen verbinden.

In einem Vortrag auf der TED-Konferenz in Edinburgh hob Dug Campbell die Vorzüge des dezentralen Ansatzes von Bitcoin und der unterstützenden Blockchain-Technologie hervor. Dadurch sei es möglich, im Zuge der Finanzkrise verloren gegangenes Vertrauen in das Geld- und Währungssystem zurückzugewinnen. Vertrauen sei (technisch) skalierbar geworden:

because bitcoin provides mankind with the ability to reach agreement on a massive scale

Menschen, die sich nicht persönlich kennen, haben durch die Blockchain-Technologie, die sämtliche Transaktionen dokumentiert und verifiziert, die Gewissheit, dass alles mit rechten Dingen zugeht. In unserer arbeitsteiligen, komplexen (Wissens-) Gesellschaft scheint es anders als mit den Mitteln der Technologie nicht mehr möglich zu sein, miteinander zu kommunizieren und Geschäfte zu tätigen.

Kann eine Technologie Vertrauen in der von Campbell beschriebenen Weise – unbegrenzt – skalieren? Bleibt der Gesellschaft keine andere Wahl?

In einem Interview mit dem Bitcoin Magazin vergleicht Amir Taaki, der die Bitcoin-Alternative Libbitcoin ins Leben gerufen hat, Bitcoin mit den ersten Gesetzestexten der Menschheit:

Moreover, one of the oldest artefacts in the world is the Code of Hammurabi, a Babylonian document dating back to almost 2000BC which deals with contract law. Contract law is the foundation on which civilizations are built. And it is the basis for how we – no, they – have been able to create corporate society. Through contract law, you get access to a set of legal tools in order to incorporate and scale upwards.

With Bitcoin, we now have a new set of tools, that are not based on the law of the state, but based on the laws of mathematics. This enables us to create decentralized law, digital governance, and a wide scope of means for trade and business.

Dennoch sieht Taaki Bitcoin kritisch. Überhaupt erinnere ihn Bitcoin immer mehr an die Kunstsprache Esperanto und ihre uneingelösten Versprechen. Bei aller Begeisterung für Technologien, sei es die Erzählung, die den Ausschlag gebe:

In fact, the technology by itself is worth nothing. What is important is the narrative, or the ideal that is being constructed through that narrative.

Technologie ist nicht neutral. Damit wären wir dann eigentlich bei Habermas und seiner Theorie des kommunikativen Handelns, kurzum bei der Diskurstheorie angekommen. Wie jedes Weltbild, wie jede kulturelle Überlieferung muss es ein reflexives Verhältnis zu sich selber gestatten:

Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen auf. Dieser lebensweltliche Hintergrund dient als Quelle für Situationsdefinitionen, die von den Beteiligten als unproblematisch vorausgesetzt werden. … Je weiter das Weltbild, das den kulturellen Wissensvorrat bereitstellt, dezentriert ist, um so weniger ist der Verständigungsbedarf im vorhinein durch die kritikfest interpretierte Lebenswelt gedeckt. (in: Theorie des kommunikativen Handelns)

Wie lassen sich die verschiedenen Lebenswelten, Weltbilder der Menschen mittels dezentraler Netzwerke annähernd in Deckung bringen? Lässt sich das Problem tatsächlich durch Algorithmen, mit Mathematik lösen, wie es u.a. in dem Konzept des Byzantinischen Fehlers beschrieben wird, oder haben Luhmann und Habermas, hier mal in ungewohnter Eintracht, Recht, wenn sie das Vertrauen von der Kontrolle durch Technologie unterscheiden? Gibt es einen Ausweg aus dem “Digitalen Gestell“?

Der Beweis, dass sich Vertrauen skalieren lässt, steht jedenfalls noch aus.

3 Gedanken zu „Ist Vertrauen “skalierbar”?“
  1. Das Gespräch mit Reemtsma ist da schon weiter, wenn er Vertrauen als Normalitätserwartung definiert. Normalität bedeutet dabei, dass es einem möglich ist, die Risiken richtig einzuschätzen.
    Generell ist Vertrauen immer das Ergebnis einer expliziten oder impliziten _persönlichen_ Risikoeinschätzung. Deshalb können auch verschiedene Menschen in Bezug auf eine dritte Person oder auch eine Sache unterschieldich viel Vertrauen empfinden.
    Kein Vertrauen haben bedeutet. mit einer Gefahr zu rechnen. Falls die Beschäftigung mit "Vertrauen" so stark zunimmt, dann könnte das daher eine zunehmende Risikoaversion oder eine Zunahme von Ängsten (intensivere Wahrhenhmung von Risiken) bedeuten – ich würde auf das Zweite tippen.
    Vertrauen und Kontrolle gehören sowieso zusammen, egal ob die Kontrolle technisch oder nicht-technisch erfolgt. Zum Beispiel kann ich die Aufrichtigkeit eines Menschen mit dem Lügendetektor kontrollieren, mit einem Fangfragen-Gespräch oder mit einer "Gefühlskontrolle" durch den Blick ins Gesicht, für die Vertrauensbildung macht das keinen Unterschied.
    Im Internet werden übrigens verschiedene Angebote zur Kontrolle gemacht, die aus dem nicht-technischen Erfahrungsbereich stammen. Schon das Avatar-Bild gehört dazu, auch die "No-fake-name-"-Policy von Facebook ist ein solcher Versuch, in Anlehnung an Offline-Traditionen Vertrauen herzustellen. Social Media ist risikobehaftet, enthält aber zahlreiche Mechanismen zum Aufbau von Vetrrauen (z.B. wer kennt X außer mir? Wie verhält sch X im Gespräch? Worüber lacht X? Was bewegt ihn? Ist der Name echt? Sagt er X, wo er wohnt? Etc. – alles typische Vertrauenswürdigkeits-Sensoren, die auf der Erfahrung mit Offline-Interaktionen gebildet sind, wozu ich aber auch z.B. den Kontakt über Telefon rechnen würde).
    Geradezu ein uraltes Muster der Risikoreduzierung ist das Abtasten auf Waffen – heute weltweit an jedem Flughafen gang und gäbe, daneben aber auch bei vielen Veranstaltungen. Auch das kann man technisch bewerkstelligen, mit Metalldetektoren (meist kommt beides zum Einsatz).
    Im Übrigen braucht im zwischenmenschlichen Bereich das _Wachsen_ von Vertrauen fast immer etwas Zeit (Frequenz und "Querchecken"). In der Werbung weiß man: "Bekanntheit schafft Vertrauen" – das ist z.B. der Sinn von Bandenwerbung im Stadion (da wird nichtsmitgeteilt außer Bekanntheit). Im Märchen erhört die Prinzessin den unbekannten Freier auch frühestens nach der 7. Begegnung.
    Wie auch immer, ich glaube nicht, dass Luhmann & Habermas Recht haben, wenn Sie Vertrauen von technischer Kontrolle unterscheiden. In Situationen, wo sich Vertrauen erst bilden muss, sind hunderte Formen von Checkings normal. "Volles Vertrauen" entlastet von Skepsis, also von Kontrollen. Momentan scheint die Sorglosigkeit abzunehmen – viele spüren einen "Vertrauensverlust" und wünschen sich mehr Kontrollen (z.B. der Regierungen, der Polizei, der Politiker, der Konzerne etc.) . Weil MIsstrauen nie auszuräumen ist, sondern sich höchstens auflösen kann, ist beschädigtes Vertrauen selbst ein Risiko für jeden, der sich um Vertrauen bewirbt oder es benötigt ( typisch z.B. Firmen, im Börsenprospekt von Zalando taucht z.B. als Risiko für Investoren auf, dass in Blogs etwas Negatives über Zalando verbreitet werden könnte).

  2. Vielen Dank für den inspirierenden Beitrag. Vertrauen und Risiko lassen sich tatsächlich kaum voneinander trennen. In dem Zusammenhang fällt mir spontan Ulrich Becks "Risikogesellschaft" ein. Die Individualisierung geht mitunter mit einer anderen Risikowahrnehmung und damit mit einem veränderten Vertrauensempfinden einher. Wenn Institutionen dazu übergehen, Risiken dem Einzelnen zu überlassen, dann kann das irgendwann zu einem Verlust an Systemvertrauen und Selbstvertrauen führen. Demnach wäre es eine Frage der Balance. In der Anthropologie bzw. den Theorien des sozialen Austauschs hat Vertrauen die Funktion des Startmechanismus für die Aufnahme und Fortsetzung einer sozialen (Austausch-)Beziehung. Das braucht Zeit bzw. Investitionen und – meistens jedenfalls – die räumliche Nähe. Sind virtuelle Welten, das Internet, die Technologie in der Lage, ein Mindestmaß an Vertrauen bzw. Vertrautheit entstehen zu lassen? Oder ist die Technologie "ein"" Mittel, um Vertrauen zu gewinnen und zu erhalten? Kann bzw. muss man das voneinander trennen? Worin unterscheidet sich das Vertrauen Personen gegenüber von dem, das man Institutionen und Organisationen einräumt?
    Sicherlich kann Vertrauen heutzutage durch das Internet deutlich schneller zerstört oder geschädigt werden als früher. Es kostet viel Anstrengung und Zeit, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Nicht umsonst haben die Reputationsrisiken einen hohen Stellenwert für die Unternehmen. Damit stellt sich für den Außenstehenden die Frage: Welche Quelle ist vertrauenswürdig? Mittlerweile versucht man das Problem mit Verfahren des Social Scoring, d.h. unter Einsatz von "Big Data" oder durch persönliche Empfehlungen, wie mit dem Klout Score oder über Netzwerke wie XING oder LinkedIn. Nach einer gewissen Zeit entwickelt man ein Gespür dafür, wem man im Netz vertrauen kann – übrigens auch auf twitter. Die Kommunikation über die sozialen Netzwerke könnte man dann als das reflexive Verhältnis des Netzes zu sich selbst interpretieren. Trotzdem bleibt die Frage, inwieweit ein Medium, eine Technologie in der Lage ist, ausreichendes Vertrauen zu generieren, um die Interaktionen weitgehend störungsfrei ablaufen zu lassen. Wieviel Kontrolle, Regulierung ist nötig? Welche Diskussionen müssen auf gesellschaftlicher Ebene begleitend stattfinden? Wo ist ein Vertrauensvorschuss unabdingbar? Wer beispielsweise in ein Auto oder ein Flugzeug steigt, braucht ein gewisses Mindestmaß an Vertrauen.
    Ute Frevert hat m.E. Recht, wenn sie davor warnt, den Begriff Vertrauen mit Erwartungen zu überfrachten, die er nicht einhalten kann und muss. Wo wird der Begriff Vertrauen, wenn man so will, missbräuchlich verwendet?
    Die Ideallinie gibt es hier m.E. nicht. Für eine Annäherung an den Idealzustand ist ein gesellschaftlicher Diskurs unabdingbar, in dem jede Seite ihre Interessen und Annahmen transparent macht.

  3. "Nach einer gewissen Zeit entwickelt man ein Gespür dafür, wem man im Netz vertrauen kann – übrigens auch auf twitter." Ich vermute, im Netz entwickelt man im Prinzip eine ähnliche Sensorik wie für Offline-Begegnungen, allerdings brauch es dafür auch ein erhöhtes Gefahrenbewusstsein. Grund: Das Netz bietet ganz neue und "verlockende" Möglichkeiten zum Vertrauensbetrug. Z.B. kann ich offline nicht so tun, als wäre ich 20 Jahre jünger, würde super aussehen etc. Im Netz kann ein Betrüger alles dies (ich kenne einen hochintelligenten Mann, Naturwissenschaftler, der sich um 3.000 Euro beim Autokauf per Netz-Kontakt betrügen ließ). Und zudem können Betrüger breite Fischnetze auswerfen (Spam etc.). Wenn man sämtliche netztypischen Vertrauensbetrügereien aufzählen möchte, da käme einiges zusammen (und dazu gehört natürlich auch Robot-Follower). Trotzdem sind diese Gefahren nicht neu, sondern nur etwas häufiger und etwas anders gestrickt. Abwehr-Technologien sind da selbstverständlich eine Möglichkeit, maßgeblich dürfte aber eben das "Gespür" sein, das sich aus einer Summe von Eindrücken ergibt. Dabei gibt uns das Netz die Möglichkeit, zusätzliche Eindrücke heranzuziehen – den vermehrten Betrugsmöglichkeiten stehen auch vermehrte Aufklärungsmöglichkeiten gegenüber. Eine Plattform wie Ebay wäre gar nicht möglich gewesen, wenn es nicht Anti-Betrugstechnologie von vornherein einbezogen hätte. Dabei zeigt sich, dass Vernetzung per se ein Schutz vor Betrug ist, weil die Vernetzung Identität offenbart und bestätigt (das nutzt ja auch Facebook). Früher gab es den Brauch des Referenzschreibens, auch das eine Vertrauensstechnologie, die Vernetzung nutzt.
    Die Vertrauensfrage stellt sich übrigens auch in Verhören bei der Polizei. Der Frager muss durch Fragen feststellen, ob eine Aussage vertrauenswürdig ist oder eher nicht. Relativ leicht fallen Widersprüche auf. Ansonsten sind Lügen meist daran zu erkennen, dass sie geringe Detailliertheit haben und eher Klischees als konkrete Spezifika nutzen sowie keine zufälligen Erinnerungen enthalten. Im Netz sind zwei Unbekannte, die miteinander in Kontakt kommen, auch anfangs in einer Situation wie in einem (wechselseitigen) Verhör. Sie prüfen sich gegenseitig auf Plausibilität, Konsistenz, Absichten etc. Auch das ist aber nicht neu gegenüber z.B. einem ersten Kontakt im Zug. "Falsche Fuffziger" entlarven sich meistens schnell bzw. man spürt, dass da etwas nicht stimmt.
    Ach, und wo man schon mal beim Gedankensammeln ist: Das Schöne am Netz ist ja, dass die Fehlschaltungen durch äußere Eindrücke erst einmal keine Rolle spielen. So kann das Netz vertrauensbasierte Kontakte zwischen Menschen schaffen, die "auf den ersten Blick" nicht miteinander in Kontakt kommen würden. Da ermöglicht das Netz sogar mehr Vertrauensbeziehungen als die Offline-Welt.

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