Von Ralf Keuper

Die Hirnforschung hat sich in den letzten Jahren den Status einer Meta-Wissenschaft erworben. Kaum ein Problem, das ohne Rückgriff auf die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung untersucht wird. Dabei reicht die vermeintliche Deutungshoheit inzwischen weit über den Dauerbrenner des Freien Willens hinaus. Vorläufiger Höhepunkt ist das Human Brain Project der Europäischen Kommission.
Gegen den, zumindest impliziten, Absolutheitsanspruch der Hirnforschung regt sich mittlerweile wachsender Widerstand.

Wie bei anderen Wissenschaften auch, existieren in der Hirnforschung unterschiedliche Richtungen. Neben Hardlinern wie Wolf Singer, Gerhard Roth und Thomas Metzinger, für die Bewusstsein letztlich nur ein Derivat im Gehirn ablaufender neuronaler Prozesse ist, stehen Forscher wie Michael Madeja und der verstorbene Detlef B. Linke, die eine moderatere Position einnehmen.

Davor setzten sich Karl R. Popper und John C. Eccles in ihrem Buch Das Ich und sein Gehirn kritisch mit der Hirnforschung auseinander und warben für ihren Dualistischen Interaktionismus. Der von Popper geprägte Begriff des Schuldschein-Materialismus trifft nach wie vor auf die materialistische Position der Hirnforschung zu. Demnach wenden die Anhänger einer materialistischen Auffassung gegen Kritik immer wieder ein, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis endlich alle Daten vorlägen, um die materialistische Position hieb- und stichfest zu begründen.

Tor Norretranders hat in seinem lesenswerten Buch Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewusstseins u.a. mit dem Verweis auf das Gödelsche Theorem den Ansprüchen bestimmter Hirnforscher die Grenzen aufgezeigt. Demzufolge kann keine Theorie vollständig und konsistent zugleich sein. Der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger verfasste dazu eine Hommage an Gödel.

Hans Jörg Sandkühler ging in seinem Buch Kritik der Repräsentation den Ursachen des aktuellen Neuro-Hype auf den Grund:

Bleibt die Frage nach den Gründen der unübersehbaren Attraktivität des Materialismus, des Naturalismus und des Reduktionismus innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Es scheinen einige Gründe mitzuspielen: Metaphysiken der Selbstoffenbarung des Seins versprechen nach dem Ende der klassischen Metaphysik Orientierungssicherheit in Zeiten der Unübersichtlichkeit, d.h. eine ungefährdete Heimat nahe am Sein selbst. .. Wo von Persil bis zum PKW alles permanent neu sein muss, kann man sich auch bezüglich des Ich, der Intentionalität, der Willensfreiheit etc. das Neueste leisten; dies trifft offensichtlich auch für Wissenschaftler zu, die flugs Neuro-Linguistiken, Neuron-Literaturwissenschaften, Neuro-Rechtswissenschaften, Neuro-Religionswissenschaften usf. wie Herbstmoden kreieren.

Kritik von Seiten der Physik kam kürzlich von Brigitte Falkenburg in ihrem Buch Mythos Determinismus. Gerhard Roth reagierte auf die Kritik in einer Rezension.

Eine Zwischenstellung nimmt Merlin Donald in seinem Buch Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes sein. Das folgende Zitat ist für seine Haltung prägnant:

Unsere neuronalen Modelle von dem Prozess, in dem eine Bedeutung in einer vorgegebenen Form abgebildet wird, beschreiben bestenfalls die Oberfläche des Ganzen. Wir wissen so gut wie nichts über die Einzelheiten der Vorgänge in den gewaltigen neuronalen Netzwerken, welche diese komplexen Spannungszustände erzeugen. Allerdings weist einiges darauf hin, dass Spannungszustände zwischen großen neuronalen Netzwerken Parallelen zu den jeweiligen Zuständen unseres semantischen Bewusstseins aufweisen. Das Bewusstsein initiiert und überwacht alle bedeutsamen symbolischen Operationen.

Vom Standpunkt der evolutionären Erkenntnistheorie argumentiert Hoimar von Ditfurth, indem er zu etwas mehr Bescheidenheit angesichts der Zeitbedingtheit unserer Erkenntnisfähigkeit rät:

Auch wenn wir, auf der Erde jedenfalls, die Spitze dieser Entwicklung bilden: Es gibt keinen, es gibt nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass ausgerechnet unser Erkenntnishorizont, just heute, bis zu dem maximalen Umfang gediehen seine könnte, der die Voraussetzung dafür wäre, dass in unserem Erleben, erstmals in der Geschichte des Universums, subjektive Wirklichkeit und objektive Realität zusammenfielen. … Alles in allem liefert somit die evolutionäre Betrachtung der Voraussetzungen unserer “Weltbildes” mir unabweisbar erscheinende Indizien für die Annahme, dass auch für uns noch weite Bereiche der objektiv existierenden Welt in einer unerreichbaren Transzendenz liegen. Natürlich kann man darüber streiten, ob dieser Bereich groß oder klein ist. Aus verschiedenen Gründen .. dürfte es sich empfehlen, ihn nicht zu unterschätzen. (in: Unbegreifliche Realität)

Ob reduktionistisch, naturalistisch, materialistisch oder monistisch: Es bleibt etwas, was sich nicht erklären lässt – auch nicht unter Zuhilfenahme größter Datenmengen und der intelligentesten Algorithmen. Oder, wie es der Physiker P.W. Anderson einmal formuliert hat: More Is Different.

Weitere Informationen:

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