Werte verteidigen ist eine Sache, aber Werte schaffen oder erneuern eine andere. Was hilft alle gesellschaftskritische Argumentation gegen die Vergiftung und Zerstörung der Natur, wenn der Baum selber uns im Grunde nichts mehr bedeutet? Aber ein Poet, der mich in einem Gedicht die Schönheit eines Baumes, die Brüderlichkeit zu diesem geheimnisvollen Wesen erleben lässt, gilt als unzeitgemäß, als nahezu lächerliches Relikt aus der Vergangenheit, während ein Autor, der ein zorniges Pamphlet gegen die Umweltzerstörung schreibt, wobei ihm selbst der Wald nicht mehr bedeutet als die biologisch-chemische Grundlage unseres eigenen Lebens, für progressiv, ja mutig gehalten wird.

Werte sind nicht von allein da, sozusagen angeboren und selbstverständlich, sondern Werte müssen geschaffen und immerfort erneuert werden, damit sie vorhanden sind. Alle Gesellschaftskritik setzt einen gemeinsamen Wert voraus, nämlich den Wert des Menschen. Es ist Aufgabe der Dichter, diesen Wert immer von neuem zu schaffen – jeder auf seine Art, jeder in seiner Zeit und in seiner Kultur. Tun sie es nicht, dann verliert dieser Wert sehr schnell an Farbe und Kontur, an Wirklichkeit, die Folge ist Barbarei und Bestialität. Schriftsteller und Künstler, die sich darin gefallen im Namen einer höchst fragwürdigen “Wahrheitsliebe” den Wert des Menschen immer noch tiefer herabzusetzen und zu zerstören, mögen zwar in unserer gegenwärtigen Zivilisation des reinen Intellektualismus sehr erfolgreich sein, in Wahrheit aber sägen sie den Ast ab, auf dem sie selber sitzen.

Quelle: Das Michael Ende Lesebuch

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