Von Ralf Keuper

Wenn heute von Cybersecurtiy, Cyberspace oder Cyberkriegen die Rede ist, dann verweisen diese Begriffe auf eine Wissenschaftsdisziplin, die im Jahr 1948 das Licht der Welt erblickte: Gemeint ist die Kybernetik. Ihr Begründer ist der Mathematiker Norbert Wiener, der 1948 den Aufsatz Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine veröffentlichte. Das Buch zog nach seiner Veröffentlichung große Kreise. Die eigentliche Geburtsstunde der Kybernetik schlug bereits 1947 auf einem interdisziplinären Seminar, dem weitere Zusammenkünfte folgten. Der Teilnehmerkreis setzte sich aus Philosophen, Ingenieuren, Psychologen, Mathematikern und Vertretern weiterer Disziplinen zusammen. Die Kybernetik beeinflusst unser Leben stärker, als es uns für gewöhnlich bewusst ist. Diese Wissenslücke schließt Thomas Rid mit seinem lesenswerten Buch maschinendämmerung. eine kurze geschichte der kybernetik.

Wiener stand während des 2 Weltkrieges in den Diensten des amerikanischen Militärs. Seine Aufgabe war es, der Armee zu einem besseren Luftabwehr-Feuerleitsystem zu verhelfen. Obwohl seine Arbeiten von den Militärs nicht berücksichtigt wurden, legten sie doch den Grundstein für die Forschungen auf dem Gebiet der Kybernetik für die nächsten Jahrzehnte. Wiener sollte im Verlauf der Zeit nur einer der Protagonisten sein. Weitere Pioniere waren Ross Ashby und Gregory Bateson.

Die Grundbegriffe der Kybernetik sind Steuerung und Rückkopplung.

Steuerung bedeutet, dass ein System mit seiner Umwelt interagieren und sie formen kann, zumindest in einem gewissen Maß. Umweltdaten werden durch Input in ein System eingespeist, das wiederum seine Umwelt durch Output beeinflusst. Für Wiener bestand darin der Kern des kybernetischen Weltbilds: “Ich behaupte, dass die physischen Funktionsweisen des lebenden Individuums und die einiger neuerer Kommunikationsmaschinen in ihren analogen Versuchen, die Entropie durch Rückkopplung zu steuern, vollkommen parallel sind (ebd.)

Kein Wunder, dass sich viele Systemtheoretiker von diesen Gedanken angezogen fühlten. Besonders angetan von Wieners Arbeiten war der bereits erwähnte Gregory Bateson. Mit seinem Buch Ökologie des Geistes (Vgl. dazu:Klassiker wieder gelesen) beeinflusste er zahlreiche Intellektuelle und Anhänger der Gegenkultur.

In den 1960er Jahren kam die Befürchtung auf, die Automatisierung könnte die Arbeitskraft des Menschen überflüssig machen. Kybernisierte Systeme könnten, so die Befürchtung damals, mit einer Präzision und Geschwindigkeit arbeiten, die für Menschen unerreichbar sind, so u.a. Donald Michael in seinem Bericht Cybernation. The Silent Conquest. Es drohe, so Michael damals, die Machtübernahme durch die Maschinen, Sinnbilder kybernitisierter Systeme. Auch Hannah Arendt bescheinigte der Kybernetik ein neues Phänomen zu sein. Arendt sah aufgrund dessen veranlasst zu fragen, was die geistige Tätigkeit als solche ist. Fragen wie diese beschäftigen die Wissenschaftler und Philosophen noch heute, wie ein Bericht von der Konferenz The Whole Earth von 2013 zeigt.

Ein begeisterter Anhänger der Kybernetik war übrigens der Begründer der Scientology-Kirche, Ron Hubbard. Wiener war darüber alles andere als erfreut.

Anomalien, predigte Hubbard, waren die Folge schlechter Eingangsdaten. Schlechter Input gleich schlechter Output (ebd.).

Wiener konnte nicht verhindern, dass die Kybernetik von Kreisen okkupiert wurde, welche die Kybernetik zu einem Kult machen wollten. Ein Beispiel dafür ist die Psychokybernetik.

Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Kybernetik spielte Steward Brand, der Herausgeber des Whole Earth Catalog. Als besonders inspirierend empfand Brand das bereits erwähnte Buch Ökologie des Geistes. Darin hatte Gregory Bateson u.a. geschrieben:

Der Computer ist nur ein Bogen eines größeren Kreislaufs, der immer einen Menschen und eine Umwelt einschließt, von der Informationen empfangen werden und auf die nach außen tretende Mitteilungen des Computers Einfluss haben.

Mit der Zeit erschienen immer skurillere Personen, die die Kybernetik für sich entdeckten bzw. auf ihre eigene mehr oder weniger originelle Weise interpretierten, wie Timothy Leary. Um zu den ihrer Meinung nach richtigen Denkgewohnheiten zu kommen, griffen Bateson, Leary u.a. zu LSD.

Bewusstseinsverändernde Drogen seien keine Flucht in eine chemisch industrielle künstliche Realität. Die Drogen zögen nicht den Vorhang vor dem Konsumenten zu; sie öffneten ihn. Die chemische Substanz enthülle eine genauere, zutreffendere und gesündere Perspektive auf die Welt. Psychedelika befreiten den Betrachter aus einer ansonsten künstlichen Realität (ebd.).

Mit dem Aufkommen des Personal Computers gesellte sich eine weitere Gruppe zur Schar der Kybernetiker: Die Hacker. Als dann das erste Internet neue Möglichkeiten der Vernetzung erschloss, war der Weg in eine eigene virtuelle Welt, zu der kein Staat und keine Regierung sich Zutritt verschaffen konnte, geebnet: Der Cyberspace wie er in dem Roman Neuromancer und in Wahre Namen entworfen wurde.  Ein weiteres wichtiges Instrument war die Kryptografie. Damit ließ sich der alte (amerikanische) Traum eines vom Staat und von äußeren Eingriffen unbehelligten Landes/Raums verwirklichen

Das erstaunliche mathematische Potential sehr großer Primzahlen garantierte beständige Strukturen in der Unermesslichkeit des neuen Raums, der nunmehr gefahrlos “kolonisiert” werden konnte. .. (ebd.).

Dieser neue Raum würde auch eine eigene Währung hervorbringen, das sog. Cyber Cash oder mittlerweile auch Kryptowährungen:

Cybercash werde die Fähigkeit des Staates, seine Bürger zu kontrollieren, drastisch einschränken. In naher Zukunft würden sämtliche kommerziellen Transaktionen über das “World Wide Web” abgewickelt und auf nicht zurückzuverfolgende Weise mit digitalem Bargeld bezahlt werden.

Heute kann man sagen, dass mit digitalen Währungen das genaue Gegenteil möglich ist, nämlich die perfekte Überwachung dank eines offenen Transaktionsprotokolls, das für jeden, auch für den Staat und Nachrichtendienste, einsehbar ist.

Die Kybernetik ist mit den Jahren zu einem Mythos geworden, der noch immer wirksam ist. Es ist fraglich, ob ihr Erfinder, Norbert Wiener, über die Entwicklung der letzten Jahrzehnte glücklich wäre.

Die ganze Vorstellung eines separaten Raums, einer Abriegelung des Virtuellen vom Realen, verkennt ein Grundprinzip der Kybernetik: den Gedanken nämlich, dass Information Teil der Realität ist, dass Input Output beeinflusst und umgekehrt, dass die Grenze zwischen System und Umwelt willkürlich ist (ebd.).

Die Maschinendämmerung, wie Wiener sie prophezeit hatte, ist nicht eingetreten; jedenfalls nicht auf die Weise, die Wiener im Sinn hatte:

Nicht die Maschinen standen im Begriff, die Macht zu übernehmen, der Mythos übernahm die Macht und ließ unsere Erwartungen an unsere digital vernetzte und computergesteuerte Zukunft so verzerrt, fahrig und gelegentlich hysterisch werden wie Palomilla, jene kleine experimentelle Maschine im Peabody Playhouse in Boston (ebd.).

Ein Gedanke zu „“maschinendämmerung. eine kurze geschichte der kybernetik” von Thomas Rid“

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