Was allerdings die weit verbreitete Auffassung angeht, die im protestantischen Denken vollzogene Akzentuierung der Bibel und des individuellen Gewissens habe unmittelbar befreiende Wirkung für die Gesellschaft gehabt, so müssen dagegen heute starke Bedenken geltend gemacht werden. Reformation und Gegenreformation haben jedenfalls zunächst zu einer Unterbrechung der in der Renaissance eingeleiteten Entwicklung in Richtung auf Freiheit des Denkens und Toleranz geführt, zur Unterdrückung der sich bis dahin stark ausbreitenden erasmischen Strömungen und zur Fanatisierung der Massen, so dass sich liberalere Auffassungen erst nach einer von Religionskämpfen, Hexenverfolgungen und Ketzerjagden erfüllten langen Zwischenperiode wieder geltend machen konnten. Die Ideen der Aufklärung stießen auf den Widerstand nicht nur der katholischen, sondern auch der protestantischen Orthodoxie. Das Gewissen, das durch die Einflüsse des jeweiligen Kulturmilieus geprägt wird, kann, wie sich gezeigt hat, durchaus autoritär-dogmatisch funktionieren, und die Bibel lässt auch dann noch entsprechende Deutungen zu, wenn das katholische Interpretationsmonopol gebrochen ist.

Quelle: Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft