Jürgen Kuczynski hat anno 1991 in einer „Kurzen Bilanz eines langen Lebens“ bekannt, er habe viele Jahre hindurch die „entscheidenden Fehler“ seiner Parteiführung mitgetragen und gerechtfertigt – jene Fehler, die schließlich das Regime vor seinen Augen in den Abgrund beförderten und zu denen er fehlende Basisdemokratie, Unterdrückung der Kritik von unten und „Übertreibung der Staatssicherheit“ rechnete. Dies, sagte Kuczynski, sei unverzeihlich, und er fügt hinzu: „Feigheit? Nein! Viel schlimmer bei einem Menschen von meiner Intelligenz und Welterfahrung: Dummheit, elende Dummheit! Reinfall auf eine anti-marxistische, anti-leninistische Ideologie! Stärker kann wohl ein alter Marxist sich nicht kritisieren.“

Der Akzent auf den Beiwörtern „anti-marxistisch“ und „anti-leninistisch“ ist nicht zu überhören. Tatsächlich konnte Kuczynski in seiner Selbstkritik nicht viel weiter gehen. Doch das allerletzte Stück des Weges zu betreten weigert er sich bis heute. In einem „Fortgesetzten Dialog mit meinem Urenkel“ .. schwört er unbeirrbar auf den alten Glauben, und nicht nur Marx und Engels sind seine Säulenheiligen, Lenin ist es nicht minder. Wladimir Iljitsch ist neben Perikles für den Historiker Jürgen Kuczynski der größte Staatsmann der Weltgeschichte, und die Schriften seines Idols sind ihm heilig. …

Wir haben die Wahl, vor Kuczynski ob seiner Glaubensfestigkeit den Hut zu ziehen oder ihn für einen unheilbar törichten Zeitgenossen zu halten, wobei sich, wie die Geschichte zu Genüge lehrt, Ideologie auch gegen höhere und höchste Intelligenzquotienten behaupten kann. Friedrich Engels sprach – natürlich meinte er nicht sich, sondern andere – von der Ideologie als falschem Bewusstsein, und er hat recht behalten. …

Aber wir reden von Glaubensdingen, von Ideologie. Ein Ansatz für eine Theorie zeichnet sich ab, die erklären könnte, warum ein Ideologe bis zum letzten Atemzug Ideologe bleiben will: Seine Ideologie nämlich schirmt ihn ab gegen eine bedrohliche Wirklichkeit und ist schon darum mit Lust besetzt.

Jürgen Kuczynski .. erfindet Fragen seines Urenkels – den Enkel gibt es, die Fragen hat er sich selber zurechtgelegt – und hantiert mit Antworten herum, die sichtlich vor allem dem Entzücken über sich selber dienen. Ins Auge springt dabei eine frappierende Beliebigkeit der Inhalte der Ideologien, und ob sie in Melancholie oder in Heiterkeit daherkommen, ist keine Frage des Verstandes, sondern des Temperaments.

Quelle: Oh, diese deutsche Jeremiaden. Wie Ideologien die Verstandeskräfte ausschalten – vom Golden Gate aus betrachtet. Autor: Jost Nolte, in: Die Welt vom 26. April 1997