Im modernen Bewusstsein ist fast völlig verdrängt, dass auch unsere ach so leistungsfähige Wissenschaft immer nur auf einer kleinen „Eisscholle der Erkenntnis“ treibt, die nirgendwo so recht verankert ist. Diese ist zwar immer schneller gewachsen, und innerhalb ihrer engen Grenzen konnten durchaus viele widerspruchsfreie Theoriegebäude errichtet werden. Doch gleichzeitig mit dem gewachsenen Umfang der „Eisscholle“ haben sich auch neue Perspektiven auf das Unverstandene jenseits des Erkenntnishorizonts eröffnet. Die Terra Incognita ist nicht geschrumpft. Wir nehmen nur nicht wahr, dass dies so ist.

Die kleinsten Bausteine der Materie verschwimmen vor den Augen der Wissenschaftler zu einem geometrischen Nirwana, und nach beinahe jeder Mission eines Forschungssatelliten wird die Geschichte des Universums wieder einmal „neu geschrieben“. Wir wissen auch nicht wirklich, wie das Gehirn funktioniert, wie die Artenvielfalt oder überhaupt das Leben entstand. Die Wissenschaft steht vor einem Berg ungelöster Fragen – und der scheint eher zu wachsen, als kleiner zu werden.

Doch die Forscher berichten uns lieber von all den kleinen Erfolgen, die sie bereits errungen haben, als von dem, was sie noch nicht wissen. Dabei ließe sich geradezu durch einen solchen „Schattenwurf der Erkenntnis“ das tatsächliche Wissen viel besser darstellen. Überdies würde der Wissenschaftsbetrieb an Menschlichkeit gewinnen, wenn auch Misserfolge, Widersprüche und ungelöste Probleme offen artikuliert würden. Denn Wissenschaft darf weder vergöttert noch verteufelt werden. Doch sie kann auch scheitern und sich irren. Alle scheinbar noch so sicheren Erkenntnisse unterliegen überdies stets dem Vorbehalt der Revision.

Etwas weniger Respekt vor den Erkenntnissen der Wissenschaft würde uns die Augen  für die großen offenen Fragen der Welt öffnen und wieder das Staunen über die Schöpfung lehren.

Quelle: Am Rande der Erkenntnis, in der Welt vom 25.04.1998

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