Das Verschwinden des politischen Gegenübers

Jean Baudrillard diagnostizierte in seinem Essay „Die schweigende Mehrheit“ das Ende der politischen Repräsentation. Seine Kernthesen: Es gibt keinen sozialen Referenten mehr – weder Volk noch Klasse noch Proletariat –, der politischen Zeichen Kraft verleihen könnte. Die Massen existieren nur noch als statistische Größe, sichtbar allein durch Sondierung und Umfragen. Ihr Schweigen ist keine Ohnmacht, sondern Verweigerung: Sie absorbieren alle Botschaften, ohne etwas zurückzugeben. Information erzeugt nicht Sinn, sondern dessen Auflösung. Das Politische implodiert in Simulation.


Was Baudrillard in den 1980er Jahren beschrieb, hat sich radikalisiert. Die politischen Parteien in Deutschland wie in anderen westlichen Demokratien sprechen zu einer Bevölkerung, die ihnen nicht mehr antwortet – jedenfalls nicht in der erwarteten Weise. Die klassischen Adressaten der Politik – Arbeiterschaft, Mittelstand, Bürger – sind als handlungsfähige politische Subjekte weitgehend verschwunden. Was bleibt, sind statistische Aggregate: Wählergruppen, Zielgruppen, demografische Cluster.

Die Parteien reagieren darauf mit immer intensiverer Kommunikation. Doch je mehr sie senden, desto weniger kommt zurück. Die Wahlbeteiligung sinkt, die Parteibindung erodiert, das Vertrauen in Institutionen schwindet. Die Politik steigert ihre Kommunikationsanstrengungen – und verstärkt damit nur das Problem.

Die Herrschaft der Sondierung

Baudrillards Beobachtung, dass die Massen nicht mehr befragt, sondern sondiert werden, ist heute Alltag. Politische Entscheidungen orientieren sich an Umfragewerten, an Fokusgruppen, an Algorithmen. Die Demoskopie ist zum eigentlichen Souverän geworden. Politiker reagieren nicht mehr auf artikulierte Interessen, sondern auf statistisch ermittelte Stimmungslagen.

Das hat Konsequenzen: Politik wird zur permanenten Anpassung an gemessene Erwartungen. Doch diese Erwartungen sind selbst Produkte der Befragungssysteme – ein Kreislauf ohne Außen. Die „öffentliche Meinung“ ist keine Meinung mehr, sondern ein Artefakt der Meinungsforschung.

Die Absorption statt Reaktion

Die schweigende Mehrheit von heute absorbiert Nachrichten, Skandale, Krisen – und bleibt merkwürdig unbewegt. Die Empörungswellen in sozialen Medien täuschen darüber hinweg: Sie sind selbst Teil der Simulation, nicht Ausdruck genuiner politischer Energie. Der Shitstorm von heute ist morgen vergessen, ohne Konsequenzen, ohne Veränderung.

Die Menschen konsumieren politische Information wie Unterhaltung. Sie sind informiert wie nie zuvor – und handeln politisch so wenig wie selten. Die Informationsflut erzeugt nicht Engagement, sondern Erschöpfung. Nicht Mobilisierung, sondern Rückzug.

Die deutsche Variante

In Deutschland zeigt sich das Muster besonders deutlich. Die Volksparteien, die einmal Millionen Mitglieder organisierten, sind auf Funktionärskerne geschrumpft. Die SPD, einst Partei der Arbeiterklasse, findet ihren historischen Referenten nicht mehr vor. Die CDU, einst Partei des Bürgertums, weiß nicht mehr, wen sie eigentlich vertritt.

Die Reaktion ist bezeichnend: Statt die eigene Krise zu analysieren, steigern die Parteien ihre PR-Aktivitäten. Mehr Kommunikation, mehr Kampagnen, mehr „Bürgerdialoge“ – die in Wahrheit inszenierte Veranstaltungen sind, bei denen niemand wirklich zuhört. Die Politik simuliert Responsivität.

Gleichzeitig wächst das Misstrauen gegenüber „den Eliten“, „den Medien“, „der Politik“. Die AfD und andere Protestbewegungen spekulieren darauf, die schweigende Mehrheit zum Sprechen zu bringen. Doch auch sie können die Massen nicht repräsentieren – sie können nur deren Schweigen in eine andere Richtung wenden.

Die Implosion der Institutionen

Was Baudrillard als Implosion des Sozialen beschrieb, zeigt sich heute als Vertrauenskrise der Institutionen. Kirchen, Gewerkschaften, Vereine, Parteien – die intermediären Organisationen, die einst zwischen Staat und Individuum vermittelten, verlieren ihre Bindungskraft. Was bleibt, sind atomisierte Individuen vor Bildschirmen, die Informationen konsumieren, ohne daraus Handlung abzuleiten.

Die Corona-Pandemie hat dieses Muster vorübergehend durchbrochen – und dann verstärkt. Der kurze Moment staatlicher Handlungsfähigkeit wich schnell der Ernüchterung. Die „Spaltung der Gesellschaft“, von der seither die Rede ist, ist in Wahrheit keine Spaltung in zwei Lager, sondern eine Fragmentierung in unzählige Gleichgültigkeiten.

Die Simulation von Politik

Was wir heute als politischen Betrieb erleben, ist in Baudrillards Sinne weitgehend Simulation. Die Talkshows simulieren Debatte, die Parteitage simulieren Demokratie, die Wahlkämpfe simulieren Auseinandersetzung. Die eigentlichen Entscheidungen fallen anderswo – in Brüssel, in den Konzernzentralen, in den Algorithmen der Plattformen.

Die Bürger wissen das. Ihr Schweigen ist auch Ausdruck dieser Einsicht. Warum sich engagieren in einem Spiel, dessen Regeln man nicht beeinflussen kann? Die Masse verweigert sich dem System nicht durch Protest, sondern durch Entzug – durch Nichtbeachtung, Desinteresse, innere Emigration.

Die offene Frage

Baudrillard bot keine Lösung an – seine Diagnose war final. Die Frage bleibt, ob die westlichen Demokratien aus dieser Implosion des Politischen einen Ausweg finden können. Die bisherigen Versuche – mehr Kommunikation, mehr Partizipationsformate, mehr Transparenz – verschärfen das Problem eher, als dass sie es lösen. Sie setzen auf Repräsentation, wo keine mehr möglich ist.

Vielleicht liegt die einzige Chance in einer ehrlichen Anerkennung der Situation: dass die alten Formen der politischen Vermittlung erschöpft sind und dass neue erst noch gefunden werden müssen – jenseits der Simulation, jenseits der permanenten Sondierung, jenseits des Rauschens der Medien.


Basierend auf: Jean Baudrillard, „Die schweigende Mehrheit“