War Heidegger zu Besuch bei uns, so pflegten wir beide zu arbeiten. Im Laufe des Tages trafen wir uns mehrmals zu Unterhaltungen. Schon die ersten Gespräche zwischen uns beflügelten mich. Man kann sich die Befriedigung kaum vorstellen, die ich darüber empfand, wenigstens mit einem Einzigen in der Philosophenzunft ernsthaft reden zu können. Worin aber lag das Gemeinsame? Wenn wir uns für eine kurze Zeit auf dem gleichen Wege fühlten, so war das, von später her gesehen, vielleicht ein Irrtum. .. Klar war die gemeinsame Opposition gegen die traditionelle Professorenphilosophie. Unklar, aber in der Tiefe bewegend war die unbestimmte Gewißheit, dass im Rahmen der Professorenphilosophie, in den wir beide eintraten mit dem Willen zur Lehre und Wirkung, etwas wie eine Umkehr nötig sei. Eine Erneuerung nicht etwa der Philosophie, sondern der damals in den Universitäten vorgefundenen Gestalt der Philosophie fühlten wir beide als Aufgabe. Gemeinsam war die Ergriffenheit von Kierkegaard. …
Von Anfang an hatte unsere Beziehung keinen Zug von Enthusiasmus. Sie war nicht eine aus der Tiefe des Wesens sich gründende Freundschaft. Durch äußere Umstände wie durch Verhalten und Worte war etwas Distanzierendes beigemischt. So war die Stimmung zwischen uns nicht eindeutig, nur in schönen Augenblicken der Gespräche wurde sie für Stunden rein und rückhaltlos. …
Ich sah seine Tiefe und konnte etwas anderes, Unbestimmtes schwer ertragen. Er schien ein Freund, der einen verriet, wenn man abwesend war, der aber in Augenblicken, die als solche folgenlos blieben, unvergeßlich nah war. …
Das Erscheinen von Heideggers “Sein und Zeit” brachte, ohne dass ich es damals recht bemerkte, keine Vertiefung, sondern eher eine Veräußerlichung unserer Beziehung. … Trotz des Glanzes seiner kraftvollen Analyse erschien es mir aber doch für das, was ich philosophisch begehrte unergiebig. Ich freute mich über die Leistung des mir verbundenen Mannes, war aber unlustig, sie zu lesen, bliebt bald stecken, weil Stil, Gehalt, Denkungsart mich nicht ansprachen. …
Diese Haltung zu Heidegger, meine stets wieder suspendierte Auffassung von ihm und seinem Denken, meine Bereitschaft, über Entgleisungen hinwegzusehen, meine Lässigkeit, mit die ich eine wirkliche Kritik unterließ und verschob, das alles konnte ich nicht fortsetzen, als 1933 unser aller Dasein sich ganz und gar veränderte und bis heute Antwort von jedem verlangt und damit Klarheit dessen, was und wofür er denken und wirken will. …
Ich sagte ihm, man habe erwartet, dass er für unsere Universität und ihre große Überlieferung sich einsetzen würde. Keine Antwort. Ich sprach über die Judenfrage, über den bösartigen Unsinn von den Weisen von Zion, worauf er: “Es gibt doch eine gefährliche internationale Verbindung der Juden”. Bei Tisch sagte er in etwas wütigem Ton, dass es so viele Philosophieprofessoren gäbe, sein ein Unfug. Man solle in ganz Deutschland nur zwei oder drei behalten. “Welche denn?” fragte ich. Keine Antwort. “Wie soll ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren?” – “Bildung ist ganz gleichgültig”, antwortete er, “sehen Sie nur seine wunderbaren Hände an!”. …
Nun wurde mir die Frage notwendig, die ich mir bis dahin nie gestellt hatte, ob in Heideggers Denken etwas wirksam ist, das mir als Feind der Wahrheit erscheinen muss, die mir zugänglich wurde. Früher hatte ich mich mit ihm, wenn auch nicht im Grunde verbunden, doch auf verwandten Wegen gefühlt. Jetzt musste ich bei der Untrennbarkeit des Denkens von der Praxis des Denkens erwarten, dass auch seine Philosophie dem, was ich versuche, gegnerisch sein werde. Doch das war nicht immer eindeutig klar. Die Fragen wurden vielmehr brennend und blieben unbeantwortet: kann es Philosophie geben, die als Werk wahr ist, während ihre Funktion in der Faktizität des Denkenden unwahr ist? Wie verhält sich Denken zur Praxis? Was ist und was tut Heidegger eigentlich?
Quelle: Karl Jaspers. Philosophische Autobiographie