Jaspers’ Identifizierung von wissenschaftlicher Wahrheit (wenigstens in den methodisch gereinigten Wissenschaften) mit zwingend gewisser, zwingend gültiger oder zwingend einsehbarer Wahrheit war ein folgenschwerer Irrtum, über den ihn Poppers “Logik der Forschung”, die schon 1934 erschienen war, hätte aufklären können.

Im Gegensatz zu Jaspers’ Auffassung lässt sich kurz folgendermaßen feststellen: Von wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen wird in der Tat verlangt, dass sie intersubjektiv überprüfbar sind. Das ist, mit einigen Qualifikationen versehen, eine notwendige Bedingung, die sie erfüllen müssen. Nachprüfbarkeit ist jedoch nicht dasselbe wie Beweisbarkeit. Empirische Theorien sind nachprüfbar, doch nicht beweisbar; die Nachprüfung kann bestenfalls zu einer Bestätigung in Einzelfällen oder aber zur Widerlegung führen. Zudem handelt es sich um Bestätigung und Widerlegung in einem abgeschwächten Sinn; denn sie vollziehen sich mit Hilfe von Beobachtungs- und experimentellen Ergebnissen, die zwar unter Wissenschaftlern vorläufig als zuverlässig gelten, sich aber früher oder später als zweifelhaft herausstellen können. Noch ein weiterer Umstand muss erwähnt werden, der zu einer Einschränkung des Kriteriums der intersubjektiven Überprüfbarkeit führt. Die empirischen Theorien schließen mitunter Sätze, sogar Grundsätze ein, die man schwerlich als überprüfbar bezeichnen kann (zum Beispiel das Trägheitsgesetz). Selbst in der reinen Mathematik ist das Kriterium der Überprüfbarkeit nur von beschränkter Gültigkeit. Aus den Untersuchungen Gödels ging hervor, dass jede hinreichend komplexe, widerspruchsfreie mathematische Theorie Sätze enthalten muss, die wahr, doch nicht entscheidbar sind.

Quelle: Alfons Grieder. Jaspers und die Möglichkeit von Philosophie im Zeitalter der Technik, in: Karl Jaspers. Zur Aktualität seines Denkens. Von Kurt Salamun (Hrsg.)

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