Von Ralf Keuper

Mit seiner Rede Unsere Zukunft und Goethe aus Anlass der Überreichung des Goethepreises der Stadt Frankfurt, sorgte Karl Jaspers im Jahr 1947 für einige Irritation im deutschen Bildungsbürgertum, worüber damals u.a. die Zeit in Karl Jaspers über Goethe berichtete. Darin schreibt Robert Strobel:

Goethe – darin gipfelt Jaspers Deutung – war vielleicht der einzige Mensch. der sich in solcher Vollständigkeit verwirklicht hat und durch Selbstdarstellung zum Bild wurde, Er ist uns kein Mythos, sein Leben ist keine Legende. Wir können mit ihm leben und damit vielleicht erst eigentlich zum Deutschen und zum Menschen werden. Aber wir dürfen Goethe auch nicht übersteigern. Seine schöpferische Gestaltung, der Naturanschauung ist unbestritten, aber diese gesamte Erkenntnis hat nichts zu tun mit dem eigentümlichen Aspekt der modernen Naturwissenschaft. Goethes geradezu leidenschaftliche Ablehnung Newtons verrät seine heimliche Furcht vor der heraufkommenden, auf der gewaltigen Abstraktion der modernen Naturbeherrschung beruhenden Welt, von der er ahnte, daß sie die Werte, die ihm teuer wären, in Gefahr bringen werde. Die Aufgabe, in dieser neuen Welt einen Weg zu finden, erklärte er nicht, sondern blieb in Bildern und Kategorien der alten Welt befangen, die für uns unzureichend sind. Uns ist die technische Welt Schicksal. Wir müssen – Goethe zum Trotz – diese Aufgabe ergreifen, wenn wir leben wollen.

Weiterhin:

Es gibt eine Grenze des Menschen, um die Goethe weiß, vor der er aber zurückweicht aus Furcht, er könnte an ihr zerbrechen. Er wehrt sich gegen Kants Wissen um das Radikal-Böse. Das ist die zweite Grenze, an der er stehen blieb, während uns das Schicksal weit über sie hinausgetragen hat. Aber es gibt noch eine dritte. Goethe hatte; wie ihm Kierkegaard vorwarf, kein Pathos. Wenn eine Situation für ihn kritisch wird, springt er ab, er dichtet sie.

Zu guter letzt:

Vor uns steht, wenn wir geistig weiterleben wollen, die Notwendigkeit einer Revolution auch der Goethe-Aneignung. Diese bedeutet, Wahrhaftigkeit zeigen, keinen Menschen vergöttern, keinen Kult treiben.

Die Rede blieb nicht ohne Widerspruch. In Goethe oder Jaspers äußerte sich der Romanist Ernst Robert Curtius kritisch zu den Aussagen Japsers’.

Ich glaube nicht der einzige Bewohner des deutschen Sprachgebietes zu sein, der die überhebliche Abkanzelung Goethes durch einen Jaspers als Mißton im deutschen Geisterkonzert empfunden hat.

Kritik an Goethe zu üben war gewiss nicht nur für Curtius ein Fall von Majestätsbeleidigung. Ob Curtius in dieser Frage als Instanz sprechen konnte, darf nach der Lektüre von Ernst Robert Curtius und die Romanistik während der Nazizeit bezweifelt werden.

Nah bei der Position von Karl Jaspers liegt Denis de Rougemont, unter Berufung auf Kierkegaard,  in seinem Journal aus Deutschland 1935-1936:

Sollte dieser unruhige, aber äußerst geschickte Humanist (Goethe) ein ernsthaftes Hindernis für das Werk der Verherrlichung der menschlichen, rein menschlichen Kräfte darstellen, die das Hitlertum verkörpert? Würde er nicht zwanzig Gründe finden, genau wie so viele Angehörige des Bürgertums, eine vermeintlich vorübergehende Tyrannei hinzunehmen, aus der vielleicht ein neuer Mensch, ein neues Glück, ein besser begründetes Glück entstehen wird? Goethe war der erste, der uns lehrte, unser Leben in der biographischen und historischen Dauer zu betrachten, vor der sich der einzelne Augenblick relativiert. Auf diese Weise verlieren die letzten Entscheidungen ihre absolute Dringlichkeit.

In seinem Buch Die großen Philosophen schreibt Jaspers unter dem Abschnitt Gegen die Menschenvergötterung:

Ehrfurcht vor der Größe ist nicht Menschenvergötterung. Jeder Mensch, auch der größte, seltenste, kostbarste, bleibt Mensch. Er ist von unserer eigenen Art. Nicht Kult ist ihm angemessen, sondern das Sehen seiner Wirklichkeit in ihrer Schleierlosigkeit, in der die Größe erst gewiss wird. Nicht in der Myhtisierung ist das Große zu bewahren, sondern im Erblicken der gesamten Realität des großen Menschen.

Wenige Seiten zuvor schrieb Jaspers:

Größe ist für uns noch nicht da, wenn wir Quantitatives bestaunen, wenn wir etwa am Maß unserer Ohnmacht die Macht derer wahrnehmen, die uns beherrschen. Wir sehen auch noch nicht die menschliche Größe, wenn unser Drang zur Unterwerfung uns die Verantwortung abnimmt, wenn diese Lust am Sklavensein unseren Blick trübt und einen Menschen übersteigert.

Heftig am Goethe-Mythos rüttelte Tilmann Jens in Goethe und seine Opfer! Eine Schmähschrift.

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