Da der Geniebegriff vor allem der Eigenart des Künstlers angeglichen ist, verlangen wir sogar von der Idealpersönlichkeit, dass sie einer zarten Harfe gleiche, die durch den leisesten Lufthauch zum Tönen gebracht wird; in der Sensitivität des Künstlers sehen wir nicht seine notwendige Unvollkommenheit, die ihre Rechtfertigung erst im Werk finden kann, sondern das erstrebenswerte Ziel selber. Deshalb beachtet und verehrt der Genieenthusiasmus gerade jene Züge seiner großen Männer, die ein Grieche wohl als Schwächen empfunden hätte. …
Wenn nämlich bei berühmten Persönlichkeiten die Affekte eine hohe Intensität und die Abhängigkeit von der Außenwelt einen hohen Grad erreicht hat, pflegt man dies als titanisch zu bezeichnen und Ehrfurcht zu empfinden. So ist es nicht verwunderlich, dass seine Affekte und Vorurteile als Zeichen seines Wertes sorgfältig pflegt, wer bemüht ist, selbst eine Persönlichkeit zu werden, dass der also strebsame Genie- und Persönlichkeitskandidat es stolz seinen Freunden erzählt, wenn ihn das harmlose Geschwätz von Spießbürgern zur Verzweiflung treibt, und dass er mit sich zufrieden ist, wenn er zum Sklaven der Außenwelt geworden ist. Denn wer nicht vor Affekten, Gefühlen und Idiosynkrasien Ehrfurcht empfindet, pflegt von der Persönlichkeitsbegeisterung als untiefer Mensch bezeichnet zu werden, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass er das Gegenteil dessen ist, was die Worte Persönlichkeit und Individualität bedeuten. Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass einmal auch ein chinesischer Mystiker das uns so geläufige Bild von der Tiefe verwendet, anscheinend jedoch nicht in europäischer Bedeutung; er sagt nämlich: Je tiefer die Leidenschaften eines Menschen sind, desto seichter sind die Regungen des Göttlichen in ihm.
Quelle: Edgar Zilsel: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung. Herausgegeben und eingeleitet von Johann Dvorak