Von Ralf Keuper
Bei der Vielzahl der soziologischen Veröffentlichungen geht nicht selten der Blick für das Naheliegende verloren. So zumindest mein Eindruck während und nach der Lektüre des Buches Wohnen – Über den Verlust der Behaglichkeit des (Innen-) Architekten Witold Rybczynski.
Am Begriff des Wohnens lässt sich die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte in ihren unterschiedlichen Facetten ablesen, wie z.B. anhand der Schilderung des häuslichen Lebens der norwegischen Familie Brun im 17. Jahrhundert:
Obwohl die Bruns in einem und demselben Gebäude lebten und arbeiteten und obwohl sich ihr tägliches Leben hauptsächlich in einem oder zwei Räumen abspielte, war ihr Haushalt kein mittelalterlicher mehr. Es gab bei ihnen mehr Möbel als in einem vergleichbaren mittelalterlichen Haus, wenn auch nicht so viele wie in Pariser Bürgerhäusern. Die Aufstellung von Öfen schuf nicht nur mehr Behaglichkeit und Komfort, sondern ermöglichte auch die Aufteilung des umbauten Raums in eine größere Anzahl funktionsgetrennter Räume, als es in früherer Zeit denkbar gewesen wäre. Der ebenerdige Wohnraum war zwar noch erkennbar ein Abkömmling des mittelalterlichen Wohnsaals, doch setzte sich allmählich die Abtrennung funktionsspezifischer Räume wie beispielsweise Küche oder Schlafkammern durch.
Die Institution Ehe verdankt sich dem eigenen Heim:
Wichtiger als technische Neuerungen waren Veränderungen im Wohnverhalten. Noch immer teilten die Eltern ihr eheliches Bett mit den Säuglingen und Kleinkindern, doch die älteren Kinder schliefen nicht mehr im gleichen Raum. Man kann sich Frederik und Marthe Brun vorstellen, wie sie, nachdem sie die ältesten Kinder ins Bett geschickt haben, noch eine Weile allein im Wohnraum sitzen. Im Haus ist es still, das Tagwerk ist getan, und die Eheleute unterhalten sich beim Schein einer Kerze. Eine schlichte Szene, und doch Inbegriff einer bahnbrechenden Veränderung in den zwischenmenschlichen Beziehungen: Ehemann und Ehefrau beginnen sich – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – als >Paar< zu begreifen. Selbst ihre Hochzeitsnacht vor zwanzig Jahren war ein öffentliches Ereignis gewesen, gefeiert mit lärmender, mittelalterlicher Ausgelassenheit. Intime Augenblicke zu zweit waren eine kostbare Seltenheit; in bescheidenen bürgerlichen Häusern wie dem der Bruns, begann das Familienleben eine private Dimension zu gewinnen. Die Bedeutung dieses Vorgangs, der sich im Innenleben des Brunsschen Hauses andeutungsweise widerspiegelt und der sich in ganz Nord- und Mitteleuropa vollzog, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Ehe die Idee des eigenen Heims als Sitz des Familienlebens sich im Bewußtsein der Leute festsetzen konnte, bedurfte es der Erfahrung sowohl einer Privat- als auch einer Intimsphäre – beides war im Wohnsaal des mittelalterlichen Hauses ein Dinge der Unmöglichkeit gewesen.
Die Kinder konnten erstmals im Familienkreis bleiben, woraus eine Verlängerung der Kindheit resultierte:
Die Entstehung einer Privatsphäre im Haus war auch Folge einer anderen bedeutsamen Veränderung im Familienleben: des Verbleibens der Kinder im Familienkreis. Die mittelalterliche Auffassung von der Familie unterschied sich in vielerlei Hinsicht von der unsrigen, namentlich in ihrer unsentimentalen Einstellung zur Kindheit. Für die Kinder der Armen war es selbstverstänlich, dass sie so früh wie möglich ihr Brot durch Arbeit selbst verdienten; in allen Familien war es üblich, die Kinder, sobald sie einmal sechs oder sieben Jahre alt waren, aus dem Haus zu schicken. Kinder aus bürgerlichen Familien kamen in die Lehre zu einem Handwerksmeister oder Kaufmann, während die Kinder der Oberschicht in aristokratischen Häusern als Pagen dienten. In beiden Fällen sollten die Lehrjahre dem doppelten dienen; die Arbeitskraft der Kindern zu nutzen und ihnen etwas beizubringen. ..
Daran begann sich erst im 16. Jahrhundert etwas zu ändern, als die schulische Unterrichtung, die es bis dahin nur m religiösen Bereich gegeben hatte, auf die Heranbildung weltlicher Fertigkeiten ausgedehnt wurde, die Lehrzeit ergänzend und teilweise auch ersetzend. .. Die Schulzeit war zwar nicht sehr lang – der Dreizehnjährige, der in der väterlichen Werkstatt als Lehrling arbeitete, hatte die Schule schon hinter sich -, aber sie bewirkte immerhin, dass die Kinder wesentlich länger im Elternhaus blieben als in früherer Zeit. Zum ersten Mal konnten Eltern miterleben, wie ihre Kinder unter ihren Augen heranwuchsen. Die Anwesenheit von Kindern unterschiedlichen Alters im Hause führte auch zu Veränderungen der Lebensweise, die sich etwa aus den Schlafgewohnheiten ablesen lassen. Es wäre leicht und auch wünschenswert gewesen, Mädchen und Buben getrennt schlafen zu lassen, aber es waren die Diener und Angestellten, die ihre eigenen Schlafkammern erhielten. Der Sohn, der gleichzeitig Lehrling war, nächtigte in einem Zimmer mit seiner Schwester, nicht bei seinen Werkstattkollegen. Das Signifikante daran war die Trennung der Familienangehörigen von den anderen Haushaltsmitgliedern. …
Der zunehmende Wohnkomfort weckte den Sinn für die Privatsphäre; eine nicht unterschätzende soziale Innovation:
Es sollte noch bis ins 18. Jahrhundert dauern, ehe mehr Wohkomfort im technischen Sinne in die Häuser einzog; es bedurfte dazu der Entwicklung neuer Techniken in der Wasserversorgung und Raumheizung sowie weiterer Verfeinerungen in der inneren Architektur der Häuser und in der Raumaufteilung. Aber der Übergang vom quasi öffentlichen, feudalen >großen Haus< zum privaten Familienheim hatte eingesetzt. Der Sinn für und das Bedürfnis nach häuslicher Privatsphäre war eine schöpferische Innovation, vielleicht sogar wichtiger als jede einzelne technische Erfindung, veränderte sie doch nicht nur unsere Umgebung, sondern auch und vor allem unser Bewußtsein.