Von Ralf Keuper

Die im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern hohe Anzahl an Impfverweigerern bzw. Impfskeptikern in den deutschsprachigen Ländern führen einige Beobachter auf das Erbe der Romantik zurück[1]Die Tradition des Schwurblertums: Hat deutsche Impfskepsis ihre Wurzeln in der Romantik?.

In ihrer Studie Quellen des «Querdenkertums». Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg halten Nadine Frei und Oliver Nachtwey fest:

Die lebensreformerische Bewegung, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert in der Schweiz und in Deutschland hatte, bezog sich in ihrem Natürlichkeitskult auf romantische Ideale. Die Romantik hat sich um 1800 in Westeuropa in Kontrast und als Komplement zur Aufklärung herausgebildet. Das romantische Weltbild hat in Deutschland seinen „prägnantesten und auch radikalsten gedanklichen Ausdruck gefunden […], wogegen es sich in Frankreich und England in erster Linie in der künstlerischen Produktion manifestiert habe“ (Weiss 1986: 287). Romantisches Denken ist verknüpft mit dem Anliegen, das Affekt- und Gefühlvolle dem Verstandesmäßigen, dem „rationalistischen Denkstil“ (Mannheim 1984: 84), nicht länger unterzuordnen. Es findet eine Suche nach Authentizität, Autonomie, Selbstverwirklichung und originellem Dasein statt, aber auch eine Suche nach Gemeinschaft, ein Rückzug in die Innerlichkeit sowie die Idealisierung einer „ursprünglichen Lebenshaltung“

In seiner Dissertation Theorien und Konzepte nationaler Erziehung von der Deutschen Romantik bis zum Nationalsozialismus schreibt Matthias Rittner:

Obwohl nationales Denken in Deutschland bereits früher einsetzte, erhielt es erst nach 1806 mit Ende des Heiligen Römischen Reiches und unter dem Eindruck der französischen Besatzung immer größere Relevanz. Hinzu kommt im Kontext der Befreiungskriege eine erste nationale Erweckung des deutschen Volkes – wenngleich, wie später noch erläutert werden wird, diese weit weniger umfangreich war als lange kolportiert und angenommen worden ist. Außerdem fällt diese erste nationale Phase mit der Hochromantik zusammen, jener Periode innerhalb der Deutschen Romantik, in welcher das Volk in zunehmendem Maße als kulturschaffendes Subjekt begriffen wurde.

Zu den Gemeinsamkeiten des organischen Denkens mit dem romantischen Denken:

Als weitere Gemeinsamkeiten wurden verschiedene grundlegende Anschauungen identifiziert, die durchaus Nähe zum romantischen Denken aufweisen. Das organische Denken, welches Natur und Irrationalität einschließt bei gleichzeitiger Frontstellung gegen „menschengemachtes Un-Natürliches“ und Rationalität, also antiaufklärerisches, romantisches Denken ist in einem Teil der Texte stark präsent. Die Begeisterung für das deutsche Volk und seine angeblich überlegene Stellung wird in einer Vielzahl der analysierten Nationalerziehungstexte ebenfalls mit der besonderen „Natürlichkeit“ der Deutschen erklärt. Zugleich wird dem „Fremden“, „Nicht-Deutschen“ das „Un-Natürliche“ und „Un-Organische“ zugewiesen. Als direkte Antipoden des naturgemäßen Germanismus gelten der Romanismus und das Judentum. Die Idee von der organischen Volksgemeinschaft wird der Vorstellung der Bürgernation gegenübergestellt. Eine klare Trennung politischer, gesellschaftlicher, kultureller Vorstellungen in naturgemäße, organische, „deutsche“ und widernatürliche, mechanische, „fremde“ Ideen wird vorgenommen. Dualistisches Denken ist in den untersuchten Texten allgegenwärtig. Entsprechend wird von vielen der in dieser Arbeit vorgestellten Befürworter einer Nationalerziehung eine Wertung vorgenommen, laut der das „Deutsche“ in der Erziehung zu fördern, das „Fremde“ hingegen zu unterbinden ist. …

Das organische Denken und die Betonung der Volksgemeinschaft, welche in Nationalpolitische Erziehung zu finden sind, verweisen auf romantische Denkmuster. Ebenso verhält es sich mit der klaren Absage an die ratio und die Stilisierung der emotio.

Der Rembrandtdeutsche als “Ideal-Romantiker”:

Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher, eines der Hauptwerke der Kulturkritik, weist eine sehr hohe Dichte von romantischem Denken auf. In diesem Buch wird das organische Denken betont, das Volk als eine Abstammungs- und Blutsgemeinschaft angesehen, das Irrationale gefeiert und zugleich das Rationale diskreditiert, ein naturbedingter deutscher Charakter propagiert, die aristokratische Ständegesellschaft als naturgemäß gefeiert und stets versucht, die große Synthese zu einem harmonischen Ganzen zu denken. Alle Kennzeichen romantisch-nationalen Denkens finden sich im Hauptwerk des Rembrandtdeutschen. Hinzu tritt die Kritik an der Moderne, an ihrer Wissenschaftlichkeit und ihren „un-natürlichen“ Ideen. Langbehn will die Deutschen zu der ihrer Natur gemäßen Individualität und damit zu ihrer Deutschheit zurückgeführt wissen. Angesichts des modernen Chaos der Pluralitäten fordert Langbehn die Besinnung auf das Eigene ein, wozu er durch eine Erziehung, welche den Maler Rembrandt als Leitbild ansieht, beitragen will

Zur Verbindung zwischen der NS-Ideologie und dem romantischen Denken:

Die NS-Ideologie setzte sich aus der Summe der konservativen Ideen zusammen, welche bereits in der wilhelminischen Zeit aufgekommen waren. Ihrem Ursprung nach romantische Denktraditionen wurden reaktiviert, wie etwa die Ansichten über das Organische in Staat und Gesellschaft und die Verklärung des Volkes. Auch die romantische Begeisterung für das Irrationale, Mythische fand seine Entsprechung im Nationalsozialismus.

Über den Beitrag des romantischen Denkens am Scheitern der Weimarer Republik:

In der Weimarer Republik hat es zwar Ansätze einer staatsbürgerlich-demokratischen Erziehung gegeben, doch scheiterte der Versuch, eine auf die junge Demokratie abzielende politische Bildung erfolgreich zu etablieren. Zu diesem Scheitern mag auch beigetragen haben, dass die national-konservative Tradition, welche eher dem romantischen Denken verhaftet war, innerhalb der Nationalerziehung in Deutschland stärker war als die staatsbürgerlich-demokratische, die sich den freiheitlichen Werten der Aufklärung verschrieben hatte.