Von Ralf Keuper

In einem Radiointerview äußerte sich der Literaturwissenschaftler und Essayist Harald Weinrich über sein Buch Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens.

Das Gespräch beginnt mit den antiken Denkern und Philosophen Hippokrates und Seneca. Für Hippokrates bestand das Dilemma darin, dass die zur Verfügung stehende Lebenszeit verglichen mit den Aufgaben immer zu kurz ist. Eine Sicht, die auch Seneca teilte. Nach Seneca sollte man der Gesellschaft seine Lebenszeit in angemessenem Rahmen opfern, jedoch noch genügend Zeit, Eigenzeit, für sich selbst reservieren.

Benjamin Franklin erhob den Spruch oder die Gleichung Zeit ist Geld zum Motto der Neuzeit. Die Wurzeln reichen indes auch hier bis in die Antike.

So berechtigt diese Gleichung zur Zeit Franklins gewesen sein mag, so wenig taugt sie heute für die Begründung der Lebenskunst. Es mag stimmen, dass Zeit auch Geld ist, jedoch ist es ein Irrtum zu meinen, gerade gegen Ende des Lebens, dass Geld in Zeit umgewandelt werden könne.

War im dreizehnten Jahrhundert Oberitalien durch die Erfindung der mechanischen Uhr Vorreiter der Zeitökonomie,  übernahmen später die protestantisch geprägten Länder im Norden Europas die wirtschaftliche Führung, indem sie die Zeit in das enge Korsett ökonomischen Denkens pressten, wie u.a. Max Weber in seinen Untersuchungen zum Zusammenspiel der protestantischen Ethik mit dem Aufkommen des Kapitalismus gezeigt hat. Seitdem gilt, anders als im Katholizismus, der ein großzügigeres Verhältnis zur Zeit unterhielt, die Anspannung bis zum letzten Atemzug, dabei den Blick auf die Uhr geheftet, anzuhalten, um nicht in Verdacht zu geraten, mit der Zeit verschwenderisch umgegangen zu sein.

Trotz der deutlich gestiegenen Lebenserwartung ist die Zeit „knapper“ denn je, was auch an der Zunahme potenzieller Ziele liegt. Das moderne Leben wird von Fristen geregelt, der härtesten Form der Zeit. Der durch die Wissenschaften beflügelte Fortschrittsglaube lässt immer wieder neue Fragen und Probleme entstehen; ein unendlicher Prozess.

Verlernt haben wir für Weinrich auch die Kunst des Vergessens, der er ein eigenes Buch gewidmet hat.

Persönlich genießt er das Privileg, in seinem Beruf nicht scharf zwischen Arbeitszeit und Freizeit trennen zu müssen. Im Rückblick empfindet er auch die Zeit der Kriegsgefangenschaft nicht als vertane, tote Zeit, da er dadurch Frankreich und die französische Sprache kennengelernt hat, wovon er in den späteren Jahren bis heute außerordentlich profitiert hat.

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