Der politische Ideologe fragt nicht: Was ist möglich? Was kann man heute, morgen mit dem geringsten Aufwand an Mitteln und Opfern erreichen? Er verlangt, dass sofort werde, was sein soll. Er fragt nicht nach dem Preis an Menschenleben, ihm ist kein Einsatz zu noch.
Die Politik als Kunst des Möglichen ist jedoch weder apokalyptisch noch messianisch. Sie begrenzt sich selbst in ihren Zielen und beschränkt sich in der Wahl der Mittel. Sie weiß, dass es Siege gibt, die man nicht erzwingen soll, weil ihr Preis ungleich höher wäre als ihr Wert, und dass ihre späteren Folgen so vernichtend sein würden wie eine Niederlage.
Sie weiß, dass die von vielen Intellektuellen und Nicht-Intellektuellen, von Rebellen und ebenso von Schwätzern verachtete Kompromisslösung schwieriger Fragen gewöhnlich die beste ist, weil sie weder zu großes Bedauern bei den einen, noch gefährliche Ressentiments bei den anderen hinterlässt. Die Kunst des Möglichen ist somit weiser, menschlicher als eine von der Ideologie inspirierte Politik.
Aber die Wahrheit ist, dass diese sich selbst bescheidene Politik nur dann gut und weise sein kann, wenn die Verhältnisse mehr oder minder normal, wenn die Probleme nicht völlig neuartig und die Konflikte nicht extrem sind. In den dreißiger Jahren versuchten die Westmächte, Hitler gegenüber eine solche Politik zu treiben, und etwa fünfzehn Jahre später machten sie den gleichen Versuch gegenüber Stalin. In beiden Fällen begingen sie katastrophale Irrtümer.
Es ist nicht wahr, dass es menschlich und weise ist, expansiver Gewalt und maßlosem Unrecht gegenüber Gleichmut zu bewahren; es ist nicht wahr, dass man das Recht hat, Augen und Ohren davor zu verschließen, dass die Regeln menschlicher Beziehungen willkürlich und gewalttätig außer Geltung gesetzt werden. Und daher haben Intellektuelle, .., stets eine bedeutende, unausweichliche Aufgabe zu erfüllen: Mahner und Erinnerer zu sein im Kampfe gegen die Drohungen und gegen die Lockungen der Macht und ebenso gegen die Borniertheit der sogenannten Realpolitik, die die Vergänglichkeit ihrer Errungenschaften verkennt, weil sie die Gegenwart als allmächtige Erbin der Vergangenheit und nicht als die Vergangenheit des Zukunftigen erfasst.
Quelle: Manès Sperber. Geschick und Missgeschick der Intellektuellen in der Politik, in: Essays zur täglichen Weltgeschichte