Von Ralf Keuper

Es gibt Diskussionen, bei denen –  so dachte ich jedenfalls – in der Wissenschaft nach 100 Jahren ein Stand erreicht sein sollte, der von den größten Legenden und Mythen befreit ist. Da befand ich mich, wie die aktuelle Kontoverse um den Wahrheitsgehalt der Dolchstoßlegende zeigt, im Irrtum.

Vor einigen Wochen veröffentlichte der in Fachkreisen hoch angesehene Historiker Gerd Krumeich in der FAZ den Beitrag Der Dolchstoß war nich bloß eine Legende. Darin überraschte er viele seiner Berufskollegen mit der kühnen Behauptung, die deutschen Armeen hätten ohne das Störmanöver linker Revolutionäre noch weiter kämpfen und damit einen besseren Frieden aushandeln können.

In seiner Antwort auf Krumeichs Beitrag bezieht Mark Jones ebenfalls in der FAZ in Es waren ganz einfach keine Soldaten mehr in Reserve Stellung:

Krumeichs Argumentation ist fehlerhaft, sein Artikel auf konsternierende Weise irreführend. An keiner Stelle findet sich der Hinweis, dass die Ereigniskette, die zu den Waffenstillstandsverhandlungen führte, von der der Obersten Heeresleitung (OHL) in Gang gesetzt wurde. Es waren Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, die Ende September 1918 erklärten, Deutschland brauche sofort einen Waffenstillstand, und die massiven Druck auf den neu ernannten Reichskanzler Prinz Max von Baden ausübten, unverzüglich einen solchen herbeizuführen.

Dass nicht nur an der Heimatfront die Zweifel wuchsen, den Krieg mit einem „Siegfrieden“ zu beenden, belegt die Tatsache, dass deutsche Soldaten in Scharen zum Gegner überliefen. Sie hatten als diejenigen, die mit der wahren Situation jeden Tag konfrontiert wurden, erkannt, dass sie in jeder Hinsicht, nach allen Kriterien, die man wiegen und messen konnte, unterlegen waren (Vgl. dazu: Statistik: Truppenstärke zu Beginn des 1. Weltkrieges, Truppenstärken im 1. Weltkrieg und Ökonomie des Krieges)

Im Spätsommer und Herbst 1918 wurden deutsche Soldaten nicht nur in großer Zahl von ihren Kriegsgegnern gefangen genommen, sondern ergaben sich auch en masse: Ganze Einheiten liefen, in manchen Fällen unter Führung ihrer eigenen Offiziere und Unteroffiziere, zu den feindlichen Linien über. Sie streckten die Waffen, weil der Gegner mehr Truppen hatte, mehr Kanonen, mehr Flugzeuge, mehr Panzer – und, noch beeindruckender, mehr und bessere Verpflegung.

In dieser Konstellation hätte eine Fortführung der Kampfhandlungen mit großer Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass weitere Zehntausende Soldaten gefallen und sich, wie Jones schreibt,

in den gegnerischen Ländern eine noch größere Wut auf die deutsche Kriegsführung angestaut hätte. Zu großzügigeren Friedensbedingungen für Deutschland hätte das wohl kaum geführt.

In seinem Buch Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg geht Sebastian Haffner intensiv auf die Dolchstoßlegende ein. In dem Kapitel Der wirkliche Dolchstoß schreibt Haffner mit Blick auf die nachlassende Kampfkraft der deutschen Armee und das Eintreffen amerikanischer Truppenkontingente auf den Schlachtfeldern:

Außerdem kamen nun die Amerikaner an, und zwar ab April rund eine Viertelmillion: frische, unverbrauchte, siegessichere Truppen, wie sie die europäischen Kriegsschauplätze schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Ein Ende der amerikanischen Sturmflut war auf lange Sicht nicht abzusehen. Im Oktober 1918 standen anderthalb Millionen Amerikaner in Frankreich. Für das Frühjahr 1919 rechnete man mit drei Millionen. Diese jetzt ständig und reißend wachsende Übermacht musste früher oder später jeden Widerstand an der Westfront erdrücken; besonders, da die Alliierten jetzt auch noch eine neue Waffe hatten, die zum erstenmal im Ersten Weltkrieg dem Angriff eine taktische Überlegenheit über die Verteidigung gab: den Tank.

Über die Rolle der Novemberrevolution schreibt Haffner:

Statt dessen erleichterte die „Novemberrevolution“ einen Vorgang, der schon vorher eingesetzt hatte und der die letzte und schlimmste Pointe in der Geschichte der deutschen Niederlage bildet: das lautlose Verschwinden der Verantwortlichen und das Verwischen der Verantwortung. Deutschland und die deutsche Niederlage wechselten in der Zeit vom 29. September bis zum 11. November 1918 sozusagen ständig den Inhaber, die Niederlage wurde von einem zum anderen geschoben. Niemand wollte etwas damit zu tun haben. Das kaiserliche Deutschland und seine Führer handelten wie ein verfolgter Dieb, der im Weglaufen den gestohlenen Gegenstand einem Passanten in die Tasche praktiziert.

Nachdem sich die Verantwortlichen aus der Affäre gezogen hatten, durften auf einmal die Kreise die Führung der Staatsgeschäfte übernehmen, die man bislang so weit wie möglich davon fern gehalten hatte: Die Sozialdemokraten, Linksliberalen und Linkskatholiken, wie Haffner feststellt. Diese übernahmen bereitwillig die Aufgabe und machten sich dabei – ungewollt –  zu nützlichen Deppen:

… die Verantwortung für die Niederlage und die Kapitulation durften sie jetzt übernehmen. Dabei wurde der neuen Regierung noch streng eingeschärft, die Oberste Heeresleitung völlig aus der Sache herauszuhalten: Niemand dürfe erfahren, dass das Waffenstillstandsgesuch auf ihr Verlangen erfolgte. Die braven sozialdemokratischen und linksbürgerlichen Politiker ließen sich darauf ein, bieder, loyal, patriotisch treuherzig bereit, „in die Bresche zu springen“, wohl gar noch ein bißchen geschmeichelt, dass man sie plötzlich regieren ließ! Auf den Gedanken, dass sie in eine Falle gingen, kam keiner.

Ihrer Verantwortung entledigt, setzten die eigentlichen Verursacher der Niederlage – quasi als Dank- noch die Dolchstoßlegende in Umlauf, deren Anziehungskraft noch bis heute anzuhalten scheint:

Bereits im Jahr darauf waren diejenigen, die sich so schäbig aus der Verantwortung herausgestohlen hatten, wieder da – als Ankläger. Jetzt wurden die Sozialdemokraten, denen sie die Niederlage damals in die Hand gespielt hatten, zu „Novemberverbrechern“, die „die siegreiche Front von hinten erdolcht“ und die Niederlage verursacht, ja, gewollt hätten. Und ein großer Teil des Volkes, mit rauher Hand aus jahrelangen Weltmachtträumen und Siegesillusionen gerissen, verwirrt und verstört von der Plötzlichkeit des Absturzes, nicht wissend, wie ihm geschah, saugte das Gift gierig ein.

Statt also dankbar dafür zu sein, dass andere für sie die Kastanien aus dem Feuer holen, sind die nationalistischen Kreise um Ludendorff u.a. ihnen in den Rücken gefallen. Das ist, wie Haffner es nennt, der wahre Dolchstoß.

Weitere Informationen:

Erster Weltkrieg 1918 – Ein bisschen Dolchstoßlegende?

„Auf Messers Schneide“Hätte der Erste Weltkrieg anders ausgehen können?

Die alte Mär vom Verrat durch das Volk. Die Veröffentlichung der Dolchstoßlegende

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