Protestantische Frömmigkeit birgt in allem Gewissensernst spezifische Gefährdungspotenziale: Indem der Protestant stärker als der Katholik auf sich selber gestellt ist, ist er auch gefährdeter, labiler. Ihm fehlen die rituellen, sakramentalen Entlastungen durch eine starke Institution. Sofern sich überhaupt der Idealtyp eines “protestantischen Menschen” beschreiben lässt, muss dieses Zurückgeworfensein auf die eigene Subjektivität ein zentrales Element bilden. Die protestantische Persönlichkeit ist in sich widersprüchlicher, zerrissener als die des institutionendefinierten Katholiken: himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, beides eng miteinander verknüpft, aber immer geprägt von einem extrem hohen religiös-moralischen Anspruch.
Protestanten standen deshalb fortwährend in der Gefahr, einer weltlichen Autorität jenen religiösen Kredit zu geben, den sie dem Papst einst verweigert hatten. Ungleich stärker als die katholischen Theologen waren protestantische Intellektuelle bereit, reformatorische Überlieferung mit allen möglichen modernen Ideen zu verbinden. Vor allem die deutschen Nationalismen wurden primär mit protestantischen Integrationsmustern konstruiert, die, so die Hoffnung, langfristig auch die Katholiken in die deutsch-protestantische Gemeinschaft einbinden könnten.

Quelle: Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. Von Friedrich Wilhelm Graf

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