Wir wissen, dass auch ein positiv als Autonomie der Person verstandener Individualismus nicht sozial möglich und lebbar ist, wenn nicht die sozialen und politischen Institutionen diese Form der Individualität, der Freiheit der Person, stützen, so dass Freiheit des Individuums immer zugleich heißt: Person und freiheitliche Institutionen. Auf der anderen Seite ist die Solidarität eine hohe soziale Tugend, sie ist die Lebenshilfe – zwar nicht nur, aber vor allem, der sozial Schwachen. Aber in der Moderne ist die korporative Solidarität sehr bald nicht mehr genossenschaftliches Zueinander, nicht nur Gruppenzusammenhalt und Gruppeneinordnung des einzelnen, sondern Solidarität heißt heute immer sehr bald Massenorganisation mit ihrer Betreuungs- und Verwaltungselite. Der Wohlfahrtsstaat als Schutz der sozial Schwachen wird unversehens sehr bald zum planstaatlich-bürokratischen Vormundschaftsstaat und bleibt es. Genau so, wie übertriebene personale Selbständigkeit in Herrschaft für andere ausarten kann – wir haben es im sozial unbeschränkten, individuellen Eigentumsbegriff des Kapitalismus erlebt – , so schlägt die sozial hilfreich gemeinte Betreuung der sozial Schwachen auf Dauer in einer Herrschaft der sozialen Betreuer um, die dann ein politisches Eigeninteresse daran haben, die Betreuten materiell und vor allem in ihrem Selbstverständnis hilflos und hilfsbedürftig zu halten. Diese Herrschaft der Betreuer kann politisch in verschiedenen Formen erscheinen: als Wohlfahrtsdiktatur, als Erziehungsdiktatur, als Herrschaft der Funktionäre, als Meinungsbeherrschung und -manipulierung usw.

Quelle: Der selbständige und der betreute Mensch