Von Ralf Keuper
Es ist der Traum vieler Physiker: Die Entdeckung einer vereinheitlichten Theorie, welche die Physik, ja die Naturwissenschaften selbst obsolet macht. Von diesem Projekt, das sich bis in unsere Tage zieht, seiner Geschichte und den Erfolgsaussichten berichtet David Lindley in Das Ende der Physik. Vom Mythos der Großen Vereinheitlichten Theorie.
Ausgangsüberlegungen, die der Vereinheitlichten Theorie zugrunde liegen:
Die theoretischen Physiker haben heute eine gewisse Vorstellung davon, wie man starke und elektroschwache Kräfte kombinieren könnte, und hoffen, auch die Schwerkraft schließlich in eine einzige vereinheitlichte Theorie aller Kräfte einzubinden. „Vereinheitlichung“ bedeutet in diesem Zusammenhang, eine theoretische Struktur in mathematischer Form zu schaffen, um die bisher getrennten Theorien unter einen Hut bringen zu können. Vereinheitlichung ist das eigentliche Thema, das Rückgrat der modernen Physik und für die meisten Physiker bedeutet Vereinheitlichung praktisch die Entdeckung einer geordneten, verständlicheren mathematischen Struktur, die bisher getrennte Phänomene miteinander verknüpft.
Ein durch und durch radikales Programm:
Die Vorstellung aufzugeben, dass sich die Physik letztlich auf einen Satz Elementarteilchen und eine Beschreibung der Art und Weise ihrer Wechselwirkung reduzieren lässt, würde bedeuten, eine intellektuelle Tradition aufzugeben, die auf die allerfrühsten Anfänge der Naturwissenschaften zurückgeht; es würde bedeuten, die Naturwissenschaft an sich aufzugeben.
An Versuchen hat es in der Vergangenheit nicht gefehlt: Quantentheorie, Quarks, Kosmologie und String-Theorie – allein, dem eigentlichen Ziel, der vereinheitlichten Theorie ist man nicht wirklich näher gekommen – im Gegenteil: Die Modelle werden immer abstrakter und nicht selten nur noch durch das Interesse der Forscher, die zu immer neuen Mitteln, manchmal auch Verfahrenstricks (wie zur Einführung der Kosmologischen Konstanten) greifen müssen, um ihre Hypothesen zu retten, am Leben erhalten. Die Welt ist zu komplex, als dass sie sich auf eine Formel bringen ließe:
Es ist die ehrliche Absicht der Physiker, die einfachste Erklärung für alle Phänomen der natürlichen Welt zu finden, die sie finden können, und es spricht für ihren Einfallsreichtum und für die Komplexität der physikalischen Welt, dass sie zu solchen Extremen der Theoretisierung greifen müssten, aber noch immer keine Theorie gefunden haben, die alles erklärt.
Andererseits ist es das unerbittliche Fortschreiten der Physik aus der Welt, die wir sehen und fühlen können, in eine Welt, die nur mittels riesiger und kostspieliger experimenteller Ausrüstung zugänglich ist, in eine Welt also, die nur durch den Verstand allein erleuchtet wird, ein echtes Alarmzeichen. Selbst innerhalb der Gemeinschaft der Teilchenphysiker gibt es einige, die meinen, dass der Trend zu einer immer stärker werdenden Abstraktion die theoretische Physik in eine l’art pour l’art – Mathematik verwandelt, höchst amüsant für diejenigen, die die Technik des Spiels beherrschen und mitspielen können, doch letztlich bedeutungslos, weil die Objekte der mathematischen Bearbeitung auf ewig dem Zugriff durch Experiment und Messung entzogen bleiben.
Auch die Kooperation zwischen Teilchenphysik und Kosmologie hat nicht die erhofften Resultate, d.h. die Formulierung einer Vereinheitlichten Theorie gebracht. Es bleiben immer noch weiße Flecken, die durch Annahmen ersetzt werden müssen, um ein stimmiges Modell zu ergeben, ohne die Gewissheit zu haben, dass man damit dem Ziel einen Schritt näher gekommen ist:
Alle Versuche einer Allumfassenden Theorie stützen sich gegenwärtig auf eine Vielzahl grundlegender Prinzipien und leiden gleichzeitig unter einem Mangel an Details: Die Theorien müssen mit zusätzlichen, verborgenen Dimensionen erweitert werden, dazu kommen Symmetriebrechungen, um einigen Teilchen Masse zu verleihen, anderen aber nicht, und weitere Symmetriebrechungen, um die verschiedenen Teilchenwechselwirkungen zu unterscheiden usw. . Diese Erweiterungen und Ausschmückungen folgen keineswegs automatisch aus irgendeiner der bisher bekannt gewordenen Allumfassenden Theorien, alles muss „von Hand“ zugegeben werden, damit sich eine Theorie ergibt, wie wir sie uns wünschen. Aber gleichzeitig sind diese Details, diese Abweichungen von der ursprünglichen, perfekten Allumfassenden Theorie das einzige, das wir zu messen hoffen können.
Die Allumfassende Theorie bleibt wohl ein unerreichbares, idealistisches Ziel – ein Mythos.
Um des deutlich zu sagen: Die Allumfassende Theorie ist ein Mythos. Ein Mythos ist eine Weltsicht, die innerhalb ihres Bezugsystems sinnvoll ist und für alles rund um uns herum eine Erklärung liefert, die sich jedoch weder überprüfen noch widerlegen lässt. Ein Mythos ist eine Erklärung, mit der jedermann übereinstimmt, weil es bequemer ist, nicht etwa, weil man ihre Wahrheit beweisen kann. Die Allumfassende Theorie, dieser Mythos, bedeutet tatsächlich das Ende der Physik – nicht etwa, weil die Physik endlich in der Lage wäre, alles im Universum zu erklären, sondern, weil die Physik am Ende all dessen angekommen ist, was sie erklären kann.
Weitere Informationen:
Das Ende der Physik – Vom Mythos der Großen Vereinheitlichten Theorie
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