Der Poet setzt das schöpferische Wirken der Natur im Bereich des menschlichen Geistes fort; er ist Stimme der Natur, er “übersetzt” für seine Zeit das, was die Natur uns mitteilen will, in die Zeichen seiner Kunst. Der Poet ist “ohne Absicht”, er “will” nicht etwas (“Wahres – Schönes – Gutes”) schaffen, er folgt den unerbittlichen Weisungen seines eigenen Innern. Alles Dinghafte, Konkrete, als “real” Definierte kann für ihn nur Material sein.

Der Spezialist dagegen ist entweder eine Art Kunsthandwerker, der reflexionslos seiner Tätigkeit nachgeht, oder er ist ein Repräsentant bestimmter gesellschaftlicher Kräfte, von denen er sich gefangen nehmen lässt. Unsere heutige Öffentlichkeit kann fast nur noch solche Halbkünstler wahrnehmen, sei es wegen ihrer Unterhaltungsfunktion, sei es weil sie sich aufklärenden, emanzipatorischen oder sonst positiv besetzten Strömungen zuordnen lassen. Halbkünstler machen schneller und besser Karriere, geben den Ton an, sind leicht zu interpretieren – ganz im Gegensatz zu den Poeten, die niemals komplett analysierbar sind. Für manchen ist die Figur des Poeten geradezu ärgerlich geworden; er erklärt ihn dann zu einem Relikt vergangener Zeiten. Hier findet die endgültige Kapitulation vor dem Spezialistentum statt; die Kultur ist dann .. zum Journalismus heruntergekommen.

Gerade unter den jungen Künstlern wächst die Einsicht, dass wir in unserer immer mehr sich verzweigenden Kultur neue Mechanismen entwickeln müssen, die hier gegensteuern können. Das ist extrem schwierig, denn jede reduzierende Verallgemeinerung führt in die Irre. Nichts darf darf geopfert werden von der großen Menge der Einzelerkenntnisse und der berechtigten Anliegen der Spezialisten. Eine Zusammenfassung zwingt uns zu einer Dimension des Denkens, die von ungeahnter Komplexität ist. Das “Poetische” erscheint jetzt keineswegs als etwas Irrationales, sondern im Gegenteil als etwas “Hyperrationales”: als die zentripetale, konzeptionelle Kraft der Kultur, die auseinanderdriftenden Energien wieder zu bündeln.

Quelle: Gebrauch der Sinne. Was wird aus Künstlern und Poeten im neuen Jahrtausend?, Autor: Hans Zender, in: Frankfurter Rundschau 1. Oktober 1999