Von Ralf Keuper

Das Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848/49 wird von vielen Historikern für die späte Einführung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland verantwortlich gemacht. Die Tatsache, dass die Einigung Deutschlands, die ein erklärtes Ziel der Revolutionäre war, auf militärischem Weg erreicht wurde, bereitete dem Militarismus der Wilhelminischen Gesellschaft den Weg, der im 1. Weltkrieg mündete. Häufig ist von einem historischen Versagen des deutschen Bürgertums die Rede.

Wolfgang J. Mommsen zeigt in seinem Buch 1848. Die ungewollte Revolution, dass dies ungerecht ist.

Die revolutionären Gruppierungen, die 1848 die Vorrechte des Adels wie überhaupt der Ständegesellschaft bei der politischen Willensbildung in den verschiedenen Ländern des damaligen Deutschen Bundes abbauen oder ganz abschaffen wollten, bildeten keinen einheitlichen Block. Unter ihnen gab es radikale Demokraten, welche die Vorrechte des Adels abschaffen wollten und auch der Monarchie insgesamt ablehnend gegenüberstanden, ebenso wie Liberale, denen es in erster Linie um die Anerkennung der wirtschaftlichen Leistung des gehobenen Bürgertums ging, den Konservativ-national Gesinnten, die eine starke Nation wollten, bis hin zum Zentrum (Rechtes Zentrum, Linkes Zentrum), das eine Postion zwischen den Extremen einnahm.

Landesteile, mit dem größten revolutionären Elan jener Zeit waren Baden, Württemberg, die westlichen Gebiete Preußens (Westfalen und Rheinland), Sachsen und Bayern.

Von großer Bedeutung während der Beratungen der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche war die Frage der Verfassung. Wichtigster Baustein waren schon damals die Grundrechte:

Die “Grundrechte” erstreckten sich nicht nur auf die Sicherstellung der persönlichen Freiheitsrechte des Bürgers und einer rechtsstaatlichen öffentlichen Ordnung, sondern zielten darüber hinaus darauf ab, die Gesellschaft von traditionellen Fesselungen feudalen oder obrigkeitlchen Ursprungs zu befreien.

Erst die Weimarer Verfassung sollte daran anknüpfen.

Anders, als häufig angenommen, handelte es sich bei der Frankfurter Nationalversammlung um kein Professorenparlament:

Die Frankfurter Nationalversammlung war keineswegs, wie man vielfach gesagt hat, ein Professorenparlament, obschon Professoren in ihr ungewöhnlich zahlreich vertreten waren, wohl aber ein Parlament, in der die akademisch gebildeten Schichten ein absolutes Übergewicht besaßen. Die übergroße Mehrheit der Abgeordneten verfügte über ein abgeschlossenes Universitätsstudium und war direkt oder indirekt in Berufen tätig, die eine akademische Qualifikation erforderten, als Beamte, Richter, Staatsanwälte, Professoren, Lehrer und andere im Staatsdienst tätige Personen. Insoweit war die Paulskirche in der Tat mehrheitlich ein Intellektuellenparlament. Aber andererseits fehlten gerade jene freischwebenden Intellektuellen, die man im Auge hat, wenn man von Intellektuellen spricht; nur 2,5 Prozent der Abgeordneten waren Schriftsteller und Journalisten.

Ein Wendepunkt, der den Anfang vom Ende der Revolution markierte, trat ein, als Friedrich Wilhelm IV. die von der Nationalversammlung ausgearbeitete Verfassung zurückwies. Daran vermochte auch die Andienung der Kaiserwürde durch die Abgeordneten nichts zu ändern. Friedrich Wilhelm IV. beschied den Delegierten, die Kaiserwürde, wenn überhaupt, nur aus den Händen der Fürsten entgegenzunehmen. Die Stunde der konservativen Konterrevolution hatte geschlagen.

Ein Schlag ins Gesicht der Nationalversammlung, die nach langwierigen Verhandlungen einen ihrer Ansicht tragfähigen und für alle Seiten akzeptablen Kompromiss glaubte gefunden zu haben:

Die Liberalen hatten der radikalen Demokratie in zähen Verhandlungen eine Verfassung abgetrotzt, die monarchistische und demokratische Herrschaftsformen auf der Basis eines differenziert ausgelegten Systems von Grundrechten miteinander kombinierte, unter anderem mit dem Ziel, dadurch die Revolution definitiv zu einem Ende zu bringen. Jetzt standen sie vor einem Scherbenhaufen. Im Unterschied zur radikalen Demokratie, die nun zum Volksaufstand gegen die Regierungen aufrief, wollten sie den Boden der Legalität nicht verlassen, um der “ungewollten Revolution” doch noch zum Siege zu verhelfen. Der große Versuch, der deutschen Staatenwelt eine fortschrittliche Gestalt zu geben und die deutsche Gesellschaft den Erfordernissen des sich entfaltenden industriellen Systems anzupassen, ohne doch radikal mit der Tradition zu brechen, war gescheitert.

Eine große Stütze der bürgerlichen Revolution in den Jahren 1848/49 waren die sog. unterbürgerlichen Schichten.

In mancher Hinsicht wird man die Rolle der unterbürgerlichen Schichten während der Revolution 1848/49 tatsächlich tragisch nennen können, wenn man dies viel mißbrauchte Wort überhaupt verwenden will: Sie waren es, welche die Barrikaden besetzten, welche mit ihren Aktionen die Monarchen zwangen, in konstitutionelle Reformen und die Wahl einer Nationalversammlung einzuwilligen; sie waren es, die bei den revolutionären Aufständen unter den Folgen der zahlreichen Kriege gelitten hatten; aber an ihrer bedrängten Lage änderte sich so gut wie nichts.

Mommsen erkennt in der Revolution von 1848/49 einen Vorläufer eines Vereinten Europas, wenngleich die direkte Folge der in den verschiedenen Ländern jener Zeit verlaufenden Revolutionen ein erstarkender Nationalismus war:

Es sollte daran erinnert werden, dass die Idee eines vereinten Europas demokratischer Nationen erstmals wieder von den Frauen und Männer der Résistance während des Zweiten Weltkriegs zur Diskussion gestellt worden ist, als dem einzig aussichtsreichen Weg, um die nationalsozialistische Herrschaft über den europäischen Kontinent abzuschütteln und eine stabile freiheitliche Ordnung Europas zu begründen. Die Begründung eines vereinten Europas stellt sich aus dieser Sicht als endgültige Einlösung der großen Vision einer freiheitlichen Neuordnung Europas dar, für welche die Männer und Frauen der Revolution von 1848/49 vergeblich gekämpft haben.

Trotz der Niederlage waren die Bemühungen der Revolutionäre von 1848/49 nicht vergebens, wie Mommsen unter Berufung auf die Historiker Wilhelm Mommsen und Otto Voßler feststellt:

Die Historiker waren sich (im Jahr 1948) nunmehr darin einig, dass der Fehlschlag der Revolution von 1848/49 für das Schicksal der Deutschen verhängnisvolle Folgen gehabt habe. Durch das Scheitern der Bemühungen der Paulskirche, die deutsche Einheit mit friedlichen Mitteln zu erringen, seien die Deutschen auf die Bahn einer mißverstandenen Realpolitik gedrängt und in eine Bismarck gegenüber unkritische Haltung getrieben worden, und ebenso sei der zu diesem Zeitpunkt noch mögliche Anschluss Deutschlands an die liberalen Traditionen Westeuropas verpasst worden. Andererseits bestehe der eigentlich bleibende Erfolg der Revolution von 1848/49 darin, dass die Deutschen damals von “einem neuen Freiheitsglauben” erfasst worden seien, welcher nicht wieder völlig verlorengegangen sei und auf dem man nun (nach dem Zweiten Weltkrieg) wieder aufbauen müsse.

Weitere Informationen:

Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit 1789-1848

Ein Gedanke zu „Die Revolution von 1848/49 in europäischer Perspektive (Wolfgang J. Mommsen)“
  1. […] In mancher Hinsicht wird man die Rolle der unterbürgerlichen Schichten während der Revolution 1848/49 tatsächlich tragisch nennen können, wenn man dies viel mißbrauchte Wort überhaupt verwenden will: Sie waren es, welche die Barrikaden besetzten, welche mit ihren Aktionen die Monarchen zwangen, in konstitutionelle Reformen und die Wahl einer Nationalversammlung einzuwilligen; sie waren es, die bei den revolutionären Aufständen unter den Folgen der zahlreichen Kriege gelitten hatten; aber an ihrer bedrängten Lage änderte sich so gut wie nichts[4]Die Revolution von 1848/49 in europäischer Perspektive (Wolfgang J. Mommsen). […]

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