Von Ralf Keuper

In seinem Buch Die Zukunft der Physik widmet Lee Smolin ein Kapitel der Rolle, welche die Seher und Handwerker für den wissenschaftlichen Fortschritt spielen. Anlass für diese Untersuchung ist, dass in den Wissenschaften die wirklich revolutionären Theorien sehr häufig von Außenseitern stammen, von Wissenschaftlern, die von den etablierten Theorien (Denkstilen) und deren Vertretern (Denkkollektiv) abweichen.

Seine Frage lautet daher:

Erkennen und belohnen wir die richtige Art von Physikern, um das anstehende Problem zu lösen? Ihr kognitives Gegenstück lautet: Stellen wir die richtigen Fragen?

Zur Unterscheidung von Handwerkern und Sehern:

Handwerkliche Könner und Seher kommen aus unterschiedlichen Gründen zur Naturwissenschaft. Handwerkliche Könner entscheiden sich für die Naturwissenschaft, weil sie in den meisten Fällen in der Schule entdeckt haben, dass sie gut darin sind. Gewöhnlich sind sie während der gesamten Schulzeit die besten Schüler in ihren Mathe- und Physikkursen, bis sie  im Promotionsstudium schließlich Leute treffen, die ihnen gewachsen sind. Sie waren immer in der Lage, mathematische Probleme zu lösen, als ihre Klassenkameraden, daher neigen sie dazu, bei anderen Wissenschaftlern Problemlösungsfähigkeiten besonders hoch zu bewerten.

Anders die Seher. Sie sind Träumer. Sie gehen in die Wissenschaft, weil sie sich mit existentiellen Fragen auseinandersetzen, die ihnen die Lehrbücher nicht beantworten. Wären sie nicht Wissenschaftler, wären sie vielleicht Künstler oder Schriftsteller geworden oder hätten Theologie studiert. Es ist nur natürlich, das sich die Angehörigen dieser beiden Gruppen mit Unverständnis und Misstrauen begegnen.

Zur Gruppe der Seher zählen für Smolin Albert Einstein und Charles Darwin. Zum Kreis der neueren Seher zählt Smolin Julian Barbour und Anthony Valentini, die lange um ihre Anerkennung kämpfen mussten.

Der berufliche Werdegang von Barbour und Valentini ist für Smolin exemplarisch:

Bedenken wir, warum Barbour und Valentini nichts von all dem hätten leisten können, hätten sie eine normale akademische Laufbahn eingeschlagen. In der Phase, in der man normalerweise Assistent oder Juniorprofessor ist und hart arbeitet, um so viel zu veröffentlichen, dass man die Einladungen und Fördermittel bekommt, die man für eine akademische Festanstellung braucht, veröffentlichen sie gar nichts. Trotzdem leisteten sie eine Menge. Gründlicher und gezielter konnten sie über ein einziges widersprechendes Grundlagenproblem nachdenken, als es einem Juniorprofessor im normalen Wissenschaftsbetrieb möglich gewesen wäre. Als sie schließlich, nach rund zehn Jahren, an die Öffentlichkeit traten, hatten sie beide eine wohldurchdachte, eigenwillige und ausgereifte Grundposition, dank der sie rasch an Einfluss gewannen. Die Autorität, die ihnen diese Jahre konzentrierten Studiums und Nachdenkens brachten, und die neuen weitreichenden Ergebnisse, die sie daraus gewannen, verliehen ihnen in den Augen aller Leute, die sich für diese Probleme interessierten, große Bedeutung.

Wenn die Wissenschaft mehr wissenschaftliche Revolutionen hervorbringen will, sollte sie sich an den Prinzipien der Risikokapitalgeber richten:

Möchten Sie eine Revolution in der Wissenschaft? Dann müssen Sie tun, was Geschäftsleute tun, wenn sie eine technologische Revolution herbeiführen wollen: Verändern Sie die Regeln einfach ein bisschen. Lassen sie ein paar Revolutionäre herein. Flachen Sie die Hierarchien ein wenig ab, um den jungen Leuten mehr Spielraum und Freiheit zu lassen. Geben Sie den jungen Forschern, die in die Kategorie hohes Risiko/hoher Ertrag fallen, mehr Möglichkeiten, um für die vielen Forschungsmittel, die Sie in die langsam vorankommende, geringe Risiken eingehende Wissenschaft investieren, einen Ausgleich zu schaffen.

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