Von Ralf Keuper

Obwohl der Einfluss der Religion auf Wirtschaft und Gesellschaft in Europa heutzutage nicht mehr so spürbar ist wie im Mittelalter, handelt es sich doch immer noch um ein Thema, das in Wissenschaft und Medien die Gemüter bewegt. Fast ausnahmslos entzünden sich die Diskussionen an dem epochalen Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus von Max Weber, worin er einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des Kapitalismus und der Verbreitung des protestantischen Glaubens herstellte. In erster Linie zielte Weber jedoch auf den Calvinismus und Pietismus als Varianten des Protestantismus.

Seit ihrer Veröffentlichung ist die Webersche These heftig kritisiert und häufig auch missverstanden bzw. überinterpretiert worden. Bis heute stehen sich die verschiedenen Positionen gegenüber. Während Heinz Steinert in seinem Buch Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus keinen direkten Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus erkennen kann, ist der amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes in seinem Buch Wohlstand und Armut der Nationen der gegenteiligen Auffassung.

Der große französische Historiker Fernand Braudel brachte seine Ablehnung gegenüber der Weberschen These in seinem Buch Die Dynamik des Kapitalismus so zum Ausdruck:

Für Max Weber war der Kapitalismus im modernen Sinne des Wortes nicht mehr und nicht weniger als ein Werk des Protestantismus oder, genauer gesagt, des Puritanismus. Alle Historiker lehnen diese These heute ab, obwohl es ihnen nicht gelungen ist sie ein für allemal zu entkräften. Und dennoch ist sie ganz offensichtlich falsch. Denn die nordeuropäischen Länder haben lediglich die Rolle übernommen, die vorher lange Zeit und auf sehr brillante Weise von den alten kapitalistischen Zentren des Mittelmeeres ausgeübt wurde. Sie haben nichts erfunden, weder im Bereich der Technik noch in der Ausführung von Geschäften. Amsterdam ahme ebenso Venedig nach wie später dann London Amsterdam oder noch später New York London nachahmte. Worum es jeweils ging, war eine Verschiebung des Schwerpunktes der Weltwirtschaft – und zwar aus >ökonomischen< Gründen, die nichts mit dem geheimen Wesen des Kapitalismus zu tun haben. .. Der Irrtum Max Webers scheint mir letztlich und hauptsächlich darin zu liegen, dass er zunächst die Rolle des Kapitalismus als treibende Kraft der modernen Welt überschätzte. Aber darin liegt nicht das eigentliche Problem. Denn das wirkliche Schicksal des Kapitalismus wurde durch dessen Konfrontation mit den sozialen Hierarchien entschieden.

In dem Kapitel Das katholische Europa (Mittelalter) aus seinem Buch Geschichte der Volkswirtschaftslehre resümiert Edgar Salin:

Von einer grundsätzlichen Wirtschaftsfeindlichkeit oder auch nur von einer tatsächlichen Wirtschaftsfeindlichkeit der Scholastik zu sprechen, ist also um nichts richtiger, als wenn die gleiche Behauptung gegenüber den antiken Philosophen aufgestellt wird. Feind ist die Scholastik als Hüterin der christlichen Tradition nur dem Erwerben um des Erwerbens willen … Bußprediger mochten die ganze Wirtschaftswelt als Machwerk des Teufels verdammen, – auch die reichen Handelsherren von Florenz waren bereit, zu Zeiten diese Stimmen anzuhören; solange aber nicht eine allgemeine kirchliche Verfemung der neuen Wirtschaft stattfand, wäre jeder der Lächerlichkeit verfallen, der Regeln verkündet und Anweisungen aufgestellt hätte, die widersinnig und praktisch undurchführbar waren.

Lange vor Max Weber untersuchte der Staats- und Völkerrechtler Johann Adam von Ickstatt (1702-1776) den Zusammenhang zwischen religiösen Institutionen, der allgemeinen Staatsverfassung und dem Gewerbefleiss der Bewohner, um dadurch die These zu beweisen, “dass es auch nur die Religion ist, welche den großen Unterschied des Wohlstandes verursacht”

Alfred Heggen, aus dessen Buch Staat und Wirtschaft im Fürstentum Paderborn im 18. Jahrhundert dieses Zitat stammt, überprüfte die Gültigkeit dieser Aussage zusammen mit der Weberschen These der protestantischen Ethik am Beispiel einer katholischen Region par excellence, wobei er zu folgender Schlussfolgerung gelangt:

Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-These – sozusagen der Vorwurf dieser Arbeit – war Gegenstand einer Prüfung unter einem besonderen Aspekt: Es sollte analysiert werden, inwiefern der Zusammenhang von Religion und Wirtschaftstätigkeit sich auch in einem geistlichen katholischen Territorium nachweisen ließe. .. Es hat sich herausgestellt bei der Gegenüberstellung zwischen der preußischen Wirtschaftspolitik und den wirtschaftlichen Verhältnissen und der staatlichen Wirtschaftspolitik im Fürstentum Paderborn im 18. Jhd., dass Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-These um einen Aspekt erweitert werden muss: der Zusammenhang von Religionszugehörigkeit und Wirtschaftstätigkeit erscheint als historischen Problem eher erfassbar, wenn der Komplex der staatlichen Eingriffe, der staatlichen Gewerbeförderung mitberücksichtigt wird.

Das eigentliche Dilemma katholischer Wirtschaftens im 18. Jahrhundert stellt sich für Heggen so dar:

… die katholische Wirtschaftslehre fußte auch noch in dem behandelten Zeitraum auf den scholastischen Gedanken der „natürlichen“ Wirtschaft. Deren Grundlage bildete die Natural- und Tauschwirtschaft, und jede gewerbliche Unternehmung war mehr oder minder mit dem der katholischen Wirtschaftsethik widersprechenden Odium der Erwerbswirtschaft, der „unnatürlichen“ Chrematistik behaftet. Darin mag ein Grund gesehen werden, warum sich die staatliche Administration gewerblicher Aktivitäten enthielt. Auf der anderen Seite wollte man natürlich nicht die damit verbundenen Einnahmen für die landesherrliche Kasse nicht missen. Und hier lag die wirtschaftspolitische Kurzsichtigkeit, im unüberlegten Fiskalismus von Landesherr und staatlicher Administration: man bedachte nicht, dass eine Gewerbeförderung mit gezielten Investitionen auf lange Sicht eine stärkere Erhöhung der Staatseinnahmen bedeuten würde.

Das Beispiel Paderborn ist auch deshalb so bezeichnend, da Max Weber einen wesentlichen Teil seiner Inspiration für die Protestantische Ethik aus den nur 30 Kilometer Luftlinie entfernten Nachbarorten Bielefeld und Oerlinghausen bezog.

Insgesamt ergibt sich also ein differenzierteres Bild, wenngleich Webers These damit m.E. nicht vollständig widerlegt ist und weitere Forschungen lohnt. Vor allem was seine Beziehung zum Katholizismus betrifft, die inniger ist, als bisher in der Öffentlichkeit bekannt war, wie Peter Hersche in seinem Vortrag Der Romaufenthalt (1901–1903) und Max Webers Verhältnis zum Katholizismus herausgearbeitet hat. Von Peter Hersche stammt auch Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, das ebenfalls ein differenzierteres Bild liefert.

Aktuelle Veröffentlichungen zu dem Thema stammen von Christoph Basten und Frank Betz, die sich in ihrer Untersuchung auf die Westschweiz beschränken.

Neben diesen seriösen, wissenschaftlichen Arbeiten tauchen immer wieder Stimmen auf, die glauben einen Zusammenhang zwischen der Staatsschuldenkrise in den Ländern der “südlichen Peripherie” und ihrem mehrheitlich katholischen Glauben herstellen zu müssen. Ganz abgesehen von dem schwachen wissenschaftlichen Grund, kann dem entgegengehalten werden, dass ausgerechnet die Paradebeispiele der protestantischen Ethik, die USA und Großbritannien, von ganz ähnlichen Problemen geplagt werden.

In Deutschland könnte man das Beispiel Bayern anführen, das gerne den protestantischen Norden, insbesondere Berlin, darauf aufmerksam macht, inzwischen den Löwenanteil im Länderfinanzausgleich aufzubringen.

Damit dürfte die Geschichte aber noch nicht zu Ende sein …

Ein Gedanke zu „Vom Einfluss der Religion auf die Wirtschaft“

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