Von Ralf Keuper

Die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal ist ein Klassiker der empirischen Sozialforschung. Darin berichtet das Forscherteam um Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld von den Ereignissen in der 20 Kilometer südlich von Wien gelegenen Kleinstadt Marienthal, die von der Weltwirtschaftskrise 1929 so hart wie keine andere Gemeinde in Österreich getroffen wurde. Als 1929 der Textilmarkt zusammenbrach, waren die Folgen für Marienthal katastrophal, da der Ort fast vollständig von der Textilfabrikation abhängig war. Als die örtliche Textilfabrik 1930 ihre Tore schloss, waren mit einem Schlag drei Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos.

Die Arbeitslosenunterstützung war damals äußerst gering und wurde überdies nur wenige Wochen gezahlt. Danach gehörte man zu den sog. Ausgesteuerten und war mehr oder weniger sich selbst überlassen.

Die wesentliche, nach wie vor gültige, Erkenntnis der Untersuchungen von Jahoda, Lazarsfeld u.a. war, dass langfristige Arbeitslosigkeit zu Resignation und Apathie, zu sozialer und politischer Inaktivität und nicht zum Aufbegehren  führt.

Das öffentliche Leben in Marienthal kam zum Erliegen. Die Ausleihungen der örtlichen Bibliothek gingen drastisch zurück, die Theateraufführungen wurden eingestellt. Nicht einmal mehr am Ringer-Wettbewerb konnte der Ort teilnehmen, da die Sportler wegen ihrer physischen Konstitution die Anforderungen ihrer Gewichtsklasse nicht mehr erfüllten.

Für Jahoda, Lazarsfeld u.a. war Marienthal ein soziales Labor zur Erforschung der Wirkungen lang andauernder Arbeitslosigkeit. Gleich zu Beginn ihrer Forschungen gaben sie sich selbst die Auflage, nicht als teilnahmslose Beobachter aufzutreten, sondern selbst aktiv an der Verbesserung der Verhältnisse mitzuwirken, wie z.B. durch die Organisation von Altkleidersammlungen und Nähkursen ebenso wie mit persönlichen Gesprächen, um den Menschen Mut zu machen.

Der Alltag der Bewohner Marientahls war von der Frage bestimmt, wie und woher sie Essen herbei schaffen konnten. Das Hauptproblem war die Erhaltung der physischen Kompetenz. Mit Strebergärten und einer blühenden Kaninchenzucht versuchten die Menschen ihre Lage zu verbessern.

Der Film versucht im weiteren Verlauf den Bogen zur heutigen Zeit zu spannen.

In Sangersleben in Sachsen-Anhalt war die Lage nach der Wiedervereinigung ähnlich dramatisch wie seinerzeit in Marienthal, als mit dem Niedergang des Bergbaus 50.000 Arbeitsplätze verloren gingen. Ein schockhafter Strukturwandel, der zu einem rapiden Zuwachs an Arbeitslosen führte.

Inzwischen wird die Lage ganzer Länder wie Spanien und Griechenland der von Marienthal immer ähnlicher. Nur auf die Apathie und Resignation der Menschen zu setzen, könnte sich aber als Trugschluss erweisen.

Wirtschaftskrisen sind auch Zeiten der Entsolidarisierung. Die eigentliche Gefahr liegt, wie in der Reportage deutlich wird, in der zunehmenden Anfälligkeit der Menschen für Demagogen, auch und vor allem derjenigen, die noch Arbeit haben aber den Abstieg fürchten. Das sei eine der Lehren aus der Weltwirtschaftskrise 1929. Massenarbeitslosigkeit ist eine Gefahr für die Demokratie. Sie ebnet Demagogen von rechts und links den Weg.

Eine geregelte Arbeit ist für die meisten Menschen eine ungeheure psychologische Hilfe, um in ihrem Alltag Sinn erfahren zu können. Bricht dieser Halt weg, können die Folgen dramatisch sein.

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