Die Idee, dass der Mensch eine Wirklichkeit ist, die von anderen Wirklichkeiten abhängig ist oder aus diesen resultiert – seien es übernatürliche, natürliche oder gesellschaftliche – ist nicht unsinnig. Im Gegenteil: sie ist plausibel. Doch eines ist der philosophische oder wissenschaftliche Wert dieser Anschauung und ein anderes sind die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen. Zu wissen, dass wir Resultate anderer Kräfte und Mächte sind, ist heilsam, da es uns dazu führt, über unsere Natur und ihre Grenzen nachzudenken; dagegen ist es anmaßend, wenn eine Gruppe von Menschen – eine Sekte, eine Kirche oder eine Partei – sich zum Interpreten des Willen Gottes oder der Geschichte erklärt. Die Idee einer Kirche als Verwahrerin des göttlichen Wortes oder einer Partei als Anführerin des Proletariats verwandelt sich zwangsläufig in die Rechtfertigung einer Gruppe. Es gibt keinen unbarmherzigeren Despotismus als den der Besitzer der Wahrheit. .. Ihre Logik kennt keine Gewissensbisse und ihre Tugend kein Erbarmen. Zuerst predigen die Kirchen das Wort Gottes, und am Ende verbrennen sie im Namen desselben Wortes Ketzer und Gottlose; die revolutionären Parteien sind zuerst im Namen des Proletariats tätig, und danach knebeln und unterdrücken sie es, auch in dessen Namen. ..
Alle Gesellschaften, von den Horden der Altsteinzeit bis zu den Nationen des industriellen Zeitalters, sind ein Gewebe von Interessen, Bedürfnissen, Leidenschaften, Institutionen, Techniken, Riten, Ideen. Das soziale Gewebe besteht nicht einzig und allein aus biologischen und ökonomischen Beziehungen: in jeder Gesellschaft teilen die Mitglieder bestimmte Grundsätze. Diese Grundsätze sind das Fundament einer Gesellschaft, und wenn sie aus diesem oder jenem Grund brüchig werden oder sich lockern, zerfällt der soziale Bau.
Quelle: Der menschenfreundliche Menschenfresser. Geschichte und Politik 1971.1980