Die biologische Vererbung wird heute mit den Begriffen Information, Botschaft und Code umschrieben. Die Reproduktion eines Organismus wird auf die der ihn aufbauenden Moleküle zurückgeführt. Das bedeutet aber nicht, dass jede chemische Verbindung die Fähigkeit besitzt, getreue Kopien ihrer selbst zu bilden, sondern dass die Struktur der Makromoleküle bis ins Detail durch die Sequenzen von vier chemischen, in der Erbsubstanz enthaltenen Radikalen festgelegt ist. Von Generation zu Generation weitergegeben werden die „Vorschriften“, welche die molekularen Strukturen bestimmen, die Baupläne des zukünftigen Organismus sowie auch die Mittel, vermöge derer diese Pläne ausgeführt und die verschiedenen Aktivitäten des Systems aufeinander abgestimmt werden. Jedes Ei enthält in den von den Eltern erhaltenen Chromosomen seine ganze Zukunft, die Etappen seiner Entwicklung, die Form und die Eigenschaften des Wesens, das aus ihm hervorgehen wird. So wird im Organismus ein von der Vererbung vorgeschriebenes Programm verwirklicht. An die Stelle der Absicht einer anima tritt von nun an die Überzeugung einer Botschaft. Das Lebewesen stellt wohl die Ausführung eines Entwurfs dar, doch wurde dieser nicht von der Weltvernunft geschaffen. Es strebt nach einem Ziel, doch wurde dieses von keinem Willen bestimmt. Dieses Ziel besteht darin, für die folgende Generation ein völlig gleiches Programm vorzubereiten; und das heisst sich zu reproduzieren. …

In allen Fällen wirkt die Reproduktion als Hauptprogrammierer der lebenden Welt. Einerseits setzt sie jedem Organismus ein Ziel, andererseits gibt sie der Geschichte der Organismen, ohne dass diese ein Ziel hätte, eine Richtung. Lange verhielt sich der Biologe zur Teleologie wie zu einer Frau, auf die er nicht verzichten kann, aber in deren Gesellschaft er nicht öffentlich gesehen werden möchte. Dieser heimlichen Liasion gibt jetzt die Vorstellung des Programms ein legales Status.

Quelle: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung

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