Von Ralf Keuper
Spätestens seit der Finanzkrise steht der Neoliberalismus unter Rechtfertigungsdruck. Obwohl inzwischen der Glaube an die Selbstheilungskräfte der Märkte erschüttert ist, ist der Neoliberalismus noch immer allgegenwärtig, wie Colin Crouch in seinem Buch Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus – Postdemokratie II mit einem leicht resignierten Unterton feststellt.
Unterdessen wird die Kritik am Neoliberalismus schärfer. So ging der Psychoanalytiker Paul Verhaeghe kürzlich im Guardian hart mit diesem Denkstil, Denkkollektiv im Sinne von Ludwik Fleck, ins Gericht. Darin wirft er dem Neoliberalismus vor, alle schlechten Eigenschaften der Menschen zum Vorschein zu bringen, ja sogar sie noch zu belohnen. Seine Gedanken zu dem Thema hat Verhaeghe in seinem Buch Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft zusammengefasst. In Deutschland bewegt sich nach meinem Eindruck Byung-Chul Han auf einer ähnlichen Argumentationslinie wie Verhaeghe. Beispielhaft dafür ist ein Interview, das er kürzlich der ZEIT gegeben hat.
Der erste medienwirksame Frontalangriff auf den Neoliberalismus kam im Jahr 1997 aus der Feder von Viviane Forrester. Ihr Buch Der Terror der Ökonomie stieß jedoch selbst bei vielen wohlmeinenden Rezensenten auf Kritik. Zu plakativ und pessimistisch war ein häufig zu lesender Vorwurf. Eigentlicher Wortführer der Kritiker des Neoliberalismus ist, neben Naomi Klein, der renommierte Linguist Noam Chomsky, der kaum eine Gelegenheit auslässt, sein Missfallen gegenüber dem Neoliberalismus kund zu tun, wie in seinem Buch profit over people. Neoliberalismus und globale Weltordnung.
So weit so gut oder auch nicht, je nach Sichtweise. Allerdings stellt sich die Frage, warum der Neoliberalismus überhaupt so erfolgreich werden konnte? Schließlich fiel er nicht vom Himmel, wenngleich sein Inhalt für einige eine Offenbarung sein mag.
Von Victor Hugo stammt der Satz:
Nichts ist mächtiger, als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Dieser Zeitpunkt scheint um das Jahr 1980 eingetreten zu sein. Eng verbunden damit sind die Begriffe Thatcherismus und Reagonomics. Vorausgegangen war dem Durchbruch die, wie man fairerweise zugestehen muss, unermüdliche Arbeit von Forschern wie Milton Friedman und Friedrich August von Hayek über mehrere Jahrzehnte. Offensichtlich war die eher an Keynes oder an der Nachfrage orientierte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik mit ihrem Latein am Ende.
Welche Alternativen zum Neoliberalismus stehen überhaupt zur Verfügung? Der Sozialismus etwa, der seinen Praxistest nicht bestanden hat, so wohlwollend man ihm auch ansonsten gegenüberstehen mag? Doch wohl nicht. Von den anderen Ismen, die deutlich extremer sind, ganz zu schweigen. Wäre der Sozialismus so, wie ihn Oscar Wilde in seiner Schrift Der Sozialismus und die Seele des Menschen skizziert hat, könnte man vielleicht noch darüber verhandeln. Gleiches gilt für den Humanistischen Sozialismus von Erich Fromm.
So aber bleibt uns nur die Ideenkritik im Sinne Isaiah Berlins, Karl Poppers oder Ralf Dahrendorfs. Und die reicht m.E. aus, um zu zeigen, dass der Neoliberalismus mittlerweile seine Befugnisse deutlich überschritten hat und zur reinen Ideologie geworden ist. Wie für Ideologien typisch, hat auch der Neoliberalismus die Tendenz, für sich den Anspruch zu erheben, alle Bereiche des menschlichen Lebens abdecken zu können. Besonders augenfällig wird das an Gary Becker und seiner Schrift Ökonomie des menschlichen Verhaltens. Allumfassende Theorien haben das Manko, dass sie bestimmte Aspekte, die sie für nebensächlich halten, ausblenden müssen. Ganz im Sinne von Hegel, der mal sinngemäß gesagt hat:
Wenn die Fakten nicht zur Theorie passen – schlecht für die Fakten!
An diesem Punkt sind sich Hegel und die Vertreter des Neoliberalismus erstaunlich nahe. Das mündet dann leicht in einen Modell-Platonismus.
Thomas Piketty, Autor des derzeit heiß diskutierten Buches „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ bringt das Dilemma in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung („Das ist doch total bescheuert“, SZ vom 4./5. Oktober 2014) auf den Punkt. Auf die Frage „Was sollte sich an den Unis ändern“, antwortet Piketty:
.. Ich habe nichts gegen Theorie, solange sie benutzt wird, um etwas Relevantes zu erklären. Das Problem der Ökonomie: Forscher arbeiten mit hochentwickelten Modellen und anspruchsvoller Mathematik, um Kleinigkeiten zu erklären. Manchmal zeigen diese Modelle auch gar nichts. Aber man kann einen Doktortitel bekommen und eine ganze Karriere darauf aufbauen, allein Theoreme zu beweisen. Ohne ein einziges Mal auf die Daten aus der Realität zu schauen oder den gesunden Menschenverstand zu benutzen. Das ist doch verrückt und muss sich ändern. Wir sollten nicht so viel über Methoden streiten und stattdessen versuchen, echte Probleme anzupacken. Man greift zur Geschichtswissenschaft, wenn es passt, an anderen Stellen zur Soziologie oder zur Statistik.
Auf das Manko umfassender Ideale, wie der Neoliberalismus sie in dem Freien Markt, dem Homo Oeconomicus oder der „unsichtbaren Hand“ erkennen will, wies John Rawls am Beispiel der Ideale der Autonomie und Individualität, wie sie John Stuart Mill und Immanuel Kant zum Kernelement ihrer Moralphilosophie machten, hin:
Als umfassende moralische Ideale sind Autonomie und Individualität für eine politische Gerechtigkeitskonzeption ungeeignet. Diese umfassenden Ideale werden daher trotz ihrer großen Bedeutung für das liberale Denken in den Theorien Kants und Mills überzogen, wenn sie als einzige angemessene Grundlage für einen Verfassungsstaat dargestellt werden. So verstanden wäre der Liberalismus nichts anderes als eine weitere sektiererische Lehre. (in: Die Idee des politischen Liberalismus)
Was wir benötigen sind andere Ansätze, wie die Plurale Ökonomie von Helge Peukert u.a. . Für noch geeigneter halte ich das Konzept des Evolutiven Wettbewerbs. Allerdings müssen wir acht geben, dass wir den Neoliberalismus nicht gegen den Biologismus eintauschen. Zur letztgenannten Denkrichtung gehört für mich auch Edward O. Wilson mit seiner Einheit des Wissens. Unschlüssig bin ich mir noch bei dem Modell der Postwachstums-Ökonomie.
Jedenfalls brauchen wir mehr Alternativen. TINA ist sicher keine Alternative. Es gibt keine Theorie oder Ideologie, die für alle Wirtschafts- und Lebensbereiche gleichermaßen geeignet ist. Anderenfalls droht eine Eintönigkeit, die dann eines Tages tatsächlich den Weg in die Knechtschaft ebnen kann.
Weitere Informationen:
Der Streik britischer Bergleute 1984 und der Aufstieg des Neoliberalismus
Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen
Was hat das mit Ökonomie zu tun? Es herrscht eine Krankheit des Formalismus in der Ökonomie
Everything for Sale: The Virtues and Limits of Markets
„Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte“ von Ernest Gellner
Herbert A. Simon über die blinden Flecken der Neoklassik
Das Paradoxon der Freiheit (Karl R. Popper)
"Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde": von der Zeit an sitzt der Reiche im Himmel und der Arme liegt auf der Erde.
(Alte jüdische Weisheit)
"Es gibt keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten", glaubt das Volk, und fragt immer wieder die hohe Politik, mit welcher Finanz- oder Wirtschaftspolitik die "Finanzkrise" zu beenden sei. Die dummen Antworten der Politiker werden immer erst im Nachhinein als solche erkannt – was das Volk nicht davon abhält, weiterhin dumme Fragen zu stellen. So fragen jene, die sich haben einreden lassen, die "Finanzkrise" sei (fast) schon beendet, mit welcher Finanz- oder Wirtschaftspolitik die "Staatsschuldenkrise" zu beenden sei.
Das erkenntnistheoretische Problem besteht darin, dass eine intelligente Frage nur stellen kann, wer den Großteil der Antwort schon kennt. Die erste intelligente Frage lautet: Warum glauben die Politiker, es könnte in "dieser Welt" eine wie auch immer geartete Finanz- oder Wirtschaftspolitik geben, mit der sich die "Finanzkrise" (globale Liquiditätsfalle) überwinden ließe? Antwort: Wenn nicht einmal die "Experten" der Zentralbanken wissen, was Geld eigentlich ist,…
Geld-Geldmengen-Geldillusionen
…verstehen es die "Spitzenpolitiker" noch viel weniger:
Schuldenbremse und Wachstum?
Zweite intelligente Frage: (Abgesehen davon, dass sie sich von den Dümmsten regieren lässt) – wie kann eine Menschheit, die bereits Raumfahrt betreibt (und in "God´s own country" schon wieder einstellen musste), so dumm sein, Massenarmut, Umweltzerstörung, Terrorismus und Krieg in Kauf zu nehmen und heute vor der größten anzunehmenden Katastrophe der Weltkulturgeschichte stehen, obwohl schon seit über einem Jahrhundert das Wissen zur Verfügung steht, um in allgemeinem Wohlstand auf höchstem technologischem Niveau in einer sauberen Umwelt und selbstverständlichem Weltfrieden zu leben?
Antwort: Eine Menschheit, die sich einreden lässt, das Paradies sei ein "Obstgarten" und verbotene Früchte müssten wohl auf "Apfelbäumchen" wachsen, muss leider bis zum Jüngsten Tag warten, um aus dem "Programm Genesis" in die Realität entlassen zu werden:
Der Jüngste Tag