Von Ralf Keuper
In dem Film Der Club der toten Dichter fordert der Englisch-Lehrer John Keating, gespielt von Robin Williams, seine verdutzen Schüler dazu auf, die Seiten über die Bewertung der Lyrik, auf denen der Anglist J. Evans Pritchard wissenschaftliche Kriterien vorgab, um Gedichte und ihre Verfasser in eine Rangfolge zu bringen, aus ihren Büchern herauszureißen. Die betreffende Filmszene ist nach wie vor sehens- und hörenswert. Zur Begründung dafür, weshalb es sich bei der Aktion um keinen Frevel handele und die Schüler daher unbesorgt ob eventueller himmlischer Strafen sein könnten, sagte Keating:
Wir sind keine Klempner, wir haben es hier mit Lyrik zu tun. Man kann doch nicht Gedichte bemessen wie amerikanische Charts.
Anscheinend ist unser Bedarf an Charts unstillbar. Wie anders ist die Flut von Rankings zu erklären, die fast jeden Tag durch die Meldungen gehen und Bereiche in eine Rangfolge glauben bringen zu müssen, um uns – ganz uneigennützig und auf Basis wissenschaftlicher Kriterien versteht sich – ein wenig Orientierung zu geben. Kaum ein Bereich bleibt von der Vermessung ausgenommen: Städte, Regionen, Länder, Banken, Universitäten, Bibliotheken, Anwaltskanzleien, die reichsten Personen eines Landes, der Welt, ja selbst das Glück bzw. die “Lebenszufriedenheit” – alles muss, alles kann nach einem einheitlichen Maßstab bewertet werden. Den Philosophen Konrad Paul Liessmann veranlasste diese Ranking-Gläubigkeit und der Missionseifer ihrer Propheten zu dem bissigen Beitrag Der Weisheit letzter Stuss.
Wer allerdings, wie ich bisher, geglaubt hat, das Bedürfnis so ziemlich alles zu vermessen und in eine Rangfolge zu bringen, sei ein Produkt unserer Zeit, wird feststellen müssen, dass es bereits Anfang des 18. Jahrhunderts Bestrebungen gab, einen einheitlichen Bewertungsmaßstab für die künstlerischen Schöpfungen des Menschen zu kreieren. Wie dem Beitrag Erfolgsgeschichte Rangliste in der Süddeutschen Zeitung zu entnehmen ist, entwickelte der französische Künstler und Kunstkritiker Roger de Piles im Jahr 1708 ein Verfahren, um die Rangfolge von Malern bestimmen zu können. Auch sonst ist der Artikel lesenswert, da er ein differenziertes Bild von dem Thema Ranking zeichnet.
Eine wahre Quelle von Rankings ist in Deutschland die Bertelsmann – Stiftung und ihr Ableger CHE. Beide stehen seit einiger Zeit in der Kritik. Erst kürzlich stellte der MDR die Frage: Bertelsmann-Studien: Eigeninteresse oder Wissenschaft?. Für die Vertreter von Lobbycontrol jedenfalls, lässt sich darauf eine klare Antwort geben. Das Ranking des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) muss sich immer wieder vorhalten lassen, bei seinen Studien nach unwissenschaftlichen Kriterien vorzugehen. Jürgen Kaube berichtet in seinem Beitrag Uni-Ranglisten – Widerstand gegen den Unfug des “Rankings” von den Beweggründen, die die deutschen Soziologen und den Verband der Historiker dazu bewogen haben, ihren Mitgliedern von der Teilnahme an dem CHE-Ranking abzuraten.
Wie immer man es auch dreht: Kein Ranking ist frei von Interessen, von blinden Flecken, von Ausgangsbedingungen, Versuchsanordnungen und Grundannahmen, die eine bestimmte Richtung vorgeben und großen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Wie Thomas Macho in seinem Vortrag Wie entstehen Weltbilder? auf der Ars Electronica 2012 zeigt, sind selbst so vermeintlich unverdächtige Repräsentationsmittel wie Landkarten keineswegs “objektiv”.
Am Beispiel der Wissenskulturen zeigt der Philosoph Hans Jörg Sandkühler, wie stark Forschergemeinschaften oder Institute von bestimmten, die eigene Sicht begrenzenden Faktoren geleitet werden:
In sie (Wissenskulturen) eingeschlossen sind ein bestimmter epistemischer Habitus, bestimmte Evidenzen, Perspektiven und weltbildabhängige Präsuppositionen, bestimmte Überzeugungen, eigensinnige sprachliche, semiotische und semantische Üblichkeiten, besondere Auffassungen zu möglichen epistemischen Zielsetzungen, Fragen und Problemlösungen, kulturspezifische Praktiken und Techniken und in diesem Kontext anerkannte Werte, Normen und Regeln. (in: Kritik der Repräsentation)
Es ist zunächst einmal kaum etwas daran auszusetzen, wenn Forscher oder Institute Rankings erstellen und veröffentlichen. Problematisch wird es dann, wenn sie mit dem Anspruch verbunden sind, den alleingültigen Maßstab abzugeben, an dem sich alle anderen zu orientieren haben, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, objektiven wissenschaftlichen Ergebnissen ihre Berechtigung abzusprechen.
Mit Albert O. Hirschmann wäre jedoch zu fragen, welche Interessen, welche Annahmen, welches Weltbild verbergen sich dahinter?
Hin und wieder sollen Rankings sogar bewusst manipuliert worden sein, wie “Deutschlands Beste” vom ZDF und bei einigen 3. Programmen der ARD, darunter der WDR und NDR. Der WDR hat, wie Boris Rosenkranz feststellt, ohnehin ein besonderes Verständnis von Transparenz.
Weitere Informationen:
Ranking – der Trend zur organisierten Desinformation (Max Otte)
Über den Wert von Bertelsmann-„Studien“
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