Vor zwanzig Jahren gab es in der Bundesrepublik eine hitzige Debatte über sogenannte Grundwerte. Doch um es boshaft zu sagen: Sie sind verfassungswidrig, falls sie vom Staat, von Glaubensgemeinschaften, von Parteien oder wem auch immer verordnet, für die Gesamtheit der Bürger als inhaltliche Festlegungen verbindlich gemacht werden. Aufgezwungene Werte verwandeln sich gespenstisch in Unwerte; sie zerstören die Würde, die Mündigkeit, die Freiheit des Menschen zu seiner eigenen Entscheidung und Verantwortung. Oder noch pointierter: Die Verteidigung der Freiheit setzt den Unglauben als Verfassungsprinzip voraus; einzig dieser amtliche Unglaube öffnet das Tor zum Glauben, der uns selbst und keinem Vormund gehört.

Mit anderen Worten: Die Verteidigung der Freiheit verlangt, dass wir alle Monopolansprüche auf das Gute und Gerechte, auf die Wahrheiten und den wahren Volkswillen entschieden zurückweisen. …

Apathie und Ignoranz auf der einen, der bösen, Einsicht und Wahrheit auf der anderen, guten Seite: Das läuft nicht bloß auf den Abschied von einem überholten Demokratieverständnis hinaus, wie es mit der Mehrheitsregel verbindet, sondern auf den Abschied von der Freiheit überhaupt. … Zugleich kehrt auf fatale Weise, sozusagen in seiner Umstülpung von >>unten<<, zur >>Basis<< hin, der Obrigkeitsstaat zurück, in dem selbsternannte Eliten uns vorschreiben, was wir zu denken haben und zu tun haben und was nicht.

Quelle: Der deutsche Niedergang. Ein Ausblick ins 21. Jahrhundert (erschienen im Jahr 1998)