Von Ralf Keuper

Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass in den Medien über neueste Errungenschaften und Vorhaben der Hirnforschungen berichtet wird, wie z.B. über das Human Brain Project, das sich jetzt 1,2 Mrd. Euro Forschungsgelder gesichert hat.

Innerhalb der letzten Jahre hat sich die Hirnforschung zu einer Ideologie mit unterschwelligem Absolutheitsanspruch entwickelt. Nur wenige Bereiche, die noch nicht mit dem Präfix Neuro bedacht wurden.

Obwohl die Erkenntnisse der Hirnforschung, auch in der eigenen Zunft, alles andere als unumstritten sind, erfreut sich die Mischung aus Materialismus und Reduktionismus reger Nachfrage. Sie scheinen jedenfalls den Zeitgeist zu treffen und einen regelrechten Neuro-Hype auszulösen, oder wie Hans Jörg Sandkühler in Kritik der Repräsentation feststellt:

Wo von Persil bis zum PKW alles permanent neu sein muss, kann man sich auch bezüglich des Ich, der Intentionalität, der Willensfreiheit etc. das Neueste leisten; dies trifft offensichtlich für Wissenschaftler zu, die flugs Neuro-Linguistiken, Neuro-Literaturwissenschaften, Neuro-Rechtswissenschaften, Neuro-Religionswissenschaften usf. wie Herbstmoden kreieren.

Hirnforschung als Religionsersatz. Das neue Zeitalter der Neuromythologie?

Durch den Einsatz bildgebender Verfahren und von Hochleistungsrechnern sollen dem Gehirn die letzten Geheimnisse entlockt werden, wie in dem bereits erwähnten Human Brain Project. Bald, so ist u.a. von dem Leiter des Human Brain Projects, Henry Markram zu hören, ist es so weit. Bis dahin gilt als Einschränkung das, was Karl Popper einmal als Schuldscheinmaterialismus bezeichnet hat, “d.h. zwar können wir noch nicht alles auf materieller Basis erklären, aber bald ist es so weit. Hoimar von Dithurth attestierte den Hirnforschern daher nicht ohne Ironie ein grenzenloses Vertrauen in ihre Fähigkeit zur kognitiven Selbst-Transzendenz”.

Aber auch bildgebende Verfahren und Simulationen sind auf die Interpretationen von Menschen angewiesen und somit interessengeleitet und fehlerhaft. (Vgl. dazu Der Mensch als neuronale Maschine?).

Mittlerweile mehren sich die kritischen Stimmen, die sich gegen das Deutungsmonopol der Hirnforschung zur Wehr setzen und dabei u.a. auf die Vielzahl der noch ungelösten Probleme verweisen, was in der Öffentlichkeit untergeht, da fast nur die Protagonisten wie Gerhard Roth und Wolf Singer zu Wort kommen.

Steven Poole spricht in dem Zusammenhang auch von Neuroblablah.

Das bedeutet nicht, dass die Hirnforschung nicht alles unternehmen muss, um zur Lösung der drängenden Probleme der Gegenwart, wie z.B. Alzheimer beizutragen – keine Frage. Wenn man sieht, wieviel Geld in anderen Bereichen “verbrannt” wird, ohne die geringste Aussicht auf “nachhaltigen” Erfolg, sind die 1,2 Mrd. Euro für das Human Brain Project gut angelegt.

Angesichts der Vielzahl der noch offenen Fragen in der Hirnforschung wäre allerdings etwas mehr Zurückhaltung und dezenteres Marketing angebracht.

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