Von Ralf Keuper
Obwohl im Jahr 1917 erschienen, kann das Buch Ästhetik der bildenden Künste von Friedrich Jodl mit einigem Recht für sich beanspruchen, in dieser Form bis heute unerreicht geblieben zu sein.
Darin wendet sich Jodl den verschiedenen Interpretationen ebenso wie der Begriffsgeschichte der Ästhetik zu. Eng mit der Ästhetik verbunden ist für Jodl, ähnlich wie für Johan Huizinga, der Spieltrieb:

Es gibt auf allen Stufen des Völkerlebens die den Menschen über ein rein tierisches Dasein erhaben zeigen, welche jenseits des bloßen Bedürfnisses, jenseits des Kampfes ums Dasein, liegt, und die ihre Quelle nicht in Not, sondern im Spiel, nicht im Zweck, sondern im scheinbar Zwecklosen, nicht in de Verstandestätigkeit, sondern in der Betätigung der Einbildungskraft hat. Die Wurzeln dieser Betätigung reichen tief hinab in die Grundlagen unserer Existenz. Wir wissen heute, dass der >Spieltrieb< neben Nahrungs-, Geschlechts-, Wahrnehmungs- und Bewegungstrieb zu der Grundausrüstung der organischen Welt gehört, dass nicht nur der Mensch spielt, sondern dass auch die Tiere spielen, und dass die Freude am Spiel und am Spielzeug, am Spielgegenstand, einer der wichtigsten Faktoren in der Kulturentwicklung ist. Beim Menschen tritt nun dieser Spieltrieb alsbald dadurch in ein höheres Stadium, dass er sich mit seiner allgemeinen Produktivität verbindet. Der Mensch ist Tier; aber er ist nicht nur denkendes, sprachbildendes, sondern vor allem auch werkzeugschaffendes, bauendes, gestaltendes Tier. Er spielt nicht nur mit sich und seinesgleichen; er schafft sich seine Spielzeuge selbst, er gestaltet Gebilde der Einbildungskraft, er stellt sie objektiv vor sich hin, um sich und andere daran zu erfreuen, um die Genussmöglichkeiten des Daseins zu erhöhen. 

Über das Verhältnis der Ästhetik zur Wirklichkeit:

Das Entscheidende scheint das Verhältnis des ästhetischen Gegenstandes und des ästhetischen Genusses zur Wirklichkeit zu sein. Jede Kunst ahmt >Wirkliches< nach oder stellt >Wirkliches< dar: Plastik, Malerei, Poesie direkt, Architektur und Musik indirekt. Alles, was ästhetisch wirkt, wirkt mit Mitteln, die der Wirklichkeit angehören, jedoch nicht selbst als ein Wirkliches, sondern als >Bild< oder >Symbol< eines Wirklichen. Diesen Grundzug des Ästhetischen findet man überall bewahrheitet. Alle Kunst ist >Illusionswirkung<, und zwar eine Illusionswirkung, der man sich, um des von ihr zu erwartenden Genusses willen, gerne hingibt, die man aufsucht.  

Die sozialen Bedingungen der Kunst:

Künstler und Kunstwerk haben ihren eigentlichen Zweck, die tiefste Berechtigung ihres Daseins, in den Wirkungen, die sie hervorbringen. Ein Kunstwerk, das niemandem etwas sagt, das niemanden in einen ästhetischen Zustand versetzt – ein solches Kunstwerk ist vielleicht ein Kuriosum, eine historische Rarität, aber es hat aufgehört oder überhaupt nie vermocht, im Sinne seines eigentlichen Wesens zu wirken. Und ein Künstler, dem man sagen würde: Schaffe, aber für dich allein, unter der Bedingung, dass das, was du hervorbringst, vor keines anderen Auge komme, dass es vor jedermann verborgen und unbekannt bleibe – einem solchen Künstler würde, wie groß wir uns auch das Maß seines inneren Dranges und seiner Arbeitsfreudigkeit vorstellen mögen, damit die beste Kraft, die seiner Seele Flügel gibt, genommen sein. .. Alle Kunst setzt ihrem innersten Wesen nach den Zuhörer und Zuschauer voraus. Und von da aus kann gewiss mit Recht gesagt werden: Die Kunst braucht nicht nur produktive, sondern auch rezeptive Begabungen zu ihrem Gedeihen.

Über den ästhetischen Zustand:
.. der ästhetische Zustand ist Selbstzweck oder letzter Zweck. Wir verlangen nach dem ästhetischen Zustande nicht, um dadurch anderweitige Zwecke zu fördern, wie wir etwa unsere Erkenntnisse zu erweitern bestrebt sind und unsere Fertigkeiten zu entwickeln oder unseren Charakter bilden, um für Zwecke des Gemeinschaftslebens tüchtiger zu sein, um dadurch menschlichen Bedürfnissen dienen zu können, für den Kampf ums Dasein besser ausgerüstet zu sein, sondern >um seiner selbst willen<, d.h. psychologisch gesprochen: um der mit dem ästhetischen Zustande als solchem verknüpften >Lust< willen. .. 

Der ästhetische Zustand ist ein Zustand des >Genießens<, der eben um dieser eigentümlichen Lust willen, die ihm charakteristisch ist, gesucht wird. Wer ästhetisch genießt, der will damit nichts weiter als diesen Genuss. Hier liegt .. eine wichtige Scheidelinie. Wer Speise und Trank genießt, freut sich wohl auch an dem Wohlgeschmack, daneben und hauptsächlich aber dienen sie dem Zwecke der Ernährung. Wer ästhetisch genießt, kann wohl durch die, ihm von da erwachsene Freude zugleich auf sein allgemeines Lebensgefühl einwirken, einen rascheren Umlauf eines Blutes bewirken, Sorgen und Kummer zerstreuen und so den ästhetischen Genuss auch indirekt in den Dienst der allgemeinen Lebenszwecke stellen; aber niemand wird glauben, das Wesen der künstlerischen Wirkung und des ästhetischen Genießens damit erschöpfend bezeichnet zu haben, dass er sie in die Reihe der Toxika und Opiate einordnet. Ganz abgesehen von dem, was er nebenbei bewirkt, ist der ästhetische Zustand an und für sich eine Quelle der Freude und mannigfaltig abgestufter Lust. 

Weitere Informationen:

Podcast: Der Aufklärer und Philosoph Friedrich Jodl 

Friedrich Jodl und das Erbe der Aufklärung

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