Wunsch- oder Idealbilder des menschlichen Zusammenlebens, also zum Beispiel literarische oder wissenschaftliche Utopien, gehen zumeist von der Vorstellung aus, dass ein ideales Regime, eine ideale Gesellschaftsform absolut konfliktlos und harmonisch sein müsse. Diese Vorstellung ist ein Ausdruck dafür, dass Konflikte zwischen Menschen gleichsam an den Nerven zerren, dass sie ein Element der Unruhe sind; und als Ideal erscheint vielen Menschen ein Zustand völliger Ruhe und vollkommenen Friedens. Ich teile diese Ansicht nicht. Ein konfliktloses Zusammenleben ist, so weit ich sehe, schlechterdings nicht vorstellbar, und darum hat es keinen Sinn, Idealbilder einer Gesellschaft – die ja schließlich auch in irgendeinem Sinne als Orientierung – und als Leitbild des Handelns gemeint sind – zu entwerfen, ohne der konstituierenden Bedeutung von Konflikten für menschliche Gesellschaften Rechnung zu tragen. Eine konfliktlose Gesellschaft mag als Gipfel der Rationalität erscheinen, aber sie ist zugleich auch eine Gesellschaft der Grabesstille, der äußersten Gefühlskälte und höchsten Langeweile – eine Gesellschaft überdies ohne jede Dynamik. In jeder erwünschten Gesellschaft, wie in der gegenwärtigen, besteht die Aufgabe nicht in der Abschaffung der Konflikte – das ist ein vergebliches Unterfangen -, sondern in ihrer Regulierung, in der Unterwerfung der Konflikte-Taktiken und -Strategien unter Regeln, die selbst nie als endgültig betrachtet werden können. Diese Regeln halten die Spannungen der Konflikte auf einer mittleren Ebene aufrecht wie eine wärmende Flamme, die weder zu heiß werden darf, so dass sie sich selbst verzehrt, noch zu schwach, so dass sie weder wärmt noch leuchtet.

Quelle: Studien über die Deutschen

 

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