Alles Wissen gründet letzten Endes auf der Tradition; wir sehen uns nicht nur einer mehr oder weniger ungestalteten Masse überkommener Ansichten und Meinungen gegenüber, die wir fraglos zu den unsrigen machen, sondern auch eine Reihe widerlegter oder abgelegter Hypothesen, die wir ebenso fraglos zur Seite schieben. Weder empirische noch experimentelle Versuche können sich ganz von den Fesseln dieser Tradition befreien, selbst wenn sie zu ihr in Gegensatz stehen. Je mehr wir uns der geschichtlichen Vergangenheit bewusst sind, desto stärker sind wir unserem ererbten Wissen verhaftet und desto eher stehen wir in seiner Schuld; je mehr die Vergangenheit die Gegenwart an Folgerichtigkeit, Glanz und Kraft übertrifft, desto blinder ist unser Glaube an vergangene Lehren und Überzeugungen. …

Besonders im Mittelalter fühlten sich die Menschen von der Größe der Vergangenheit überwältigt, so dass sie sich dieser nicht als Kritiker, sondern als folgsame und lernbegierige Schüler näherten. Wenn die Klassiker auch die einzige Quelle des Wissens darstellten, so schien diese Quelle unerschöpflich zu sein; aus ihr flossen Dichtung, Rhetorik, Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaften, Recht und Politik, weshalb es im Bestiaire d’Amour von Richard Fornival heisst: „Jene Menschen, die vor uns lebten, wussten gewisse Dinge, deren Kenntnis sich heute kein Mensch mehr nur mit Hilfe seines eigenen Intellektes aneignen könnte, so dass wir sie nicht kennen würden, wären sie nicht von den Menschen in der Vergangenheit entdeckt worden“. Je weiter das Mittelalter fortschritt, desto eingehender erforschte man die klassischen Quellen. Gewiss trifft es zu, dass die eigentliche Renaissance der klassischen Bildung erst zu Ende des Mittelalters eintrat, doch bedeutet dies nicht, dass es Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte gab, in denen das klassische Wissen völlig im Dunkel der Vergessenheit schlummerte. Es ist im Gegenteil möglich, eine sich stetig entfaltende Tradition festzustellen und sie durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen, so dass die Renaissance als Gipfelpunkt einer Entwicklung erscheint, als die Geburtsstunde des freiheitlichen Denkens zu einer Zeit, in der die Klassiker endlich in ihrer ganzen Tragweite assimiliert worden waren.

Quelle: Das Leben im mittelalterlichen Frankreich

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