Von Ralf Keuper
An kaum einer wissenschaftlichen Methode scheiden sich die Geister so sehr wie an dem Falsifikatioinsprinzip von Karl R. Popper.
Darin äußert Popper seine Überzeugung, dass wissenschaftliche Theorien falsifizierbar, d.h. widerlegbar sein müssen. Theorien, die aufgrund identischer Beobachtungen und konstanter Ergebnisse oder auch nur auf Basis von Erfahrungswerten von sich behaupten, wahr zu sein, lehnt er ab. Berühmt geworden ist in dem Zusammenhang die Parabel des “Schwarzen Schwanes“.
So überzeugend die Argumentation auf den ersten Blick erscheint wie auch angesichts der Erfolge und Verbreitung des Falsifikationsprinzips in der Wissenschaft, überrascht, oder vielleicht auch wiederum nicht, dass es in den eigenen Reihen heftigen Widerstand hervorrief, der bis heute anhält.
Der wohl prominenteste und schärfste Kritiker des Falsifikationsprinzips wie überhaupt des kritischen Rationalismus war Poppers ehemaliger Schüler Paul K. Feyerabend. In seinen Büchern Wider den Methodenzwang und Erkenntnis für freie Menschen ließ er kein gutes Haar an seinem ehemaligen Lehrer und dessen Wissenschaftstheorie.
Für Feyerabend engte der kritische Rationalismus die Sicht der Forschung ein, ja verhinderte sogar neue Entdeckungen. Stattdessen plädierte er für einen Relativismus, der in dem Schalgwort “Anything goes” gipfelte und ihn damit endgültig zum enfant terrible des Wissenschaftsbetriebs machte.
Weniger drastisch mit ihrer Kritik waren dagegen Imre Lakatos, ebenfalls ein ehemaliger Schüler Poppers, und Thomas S. Kuhn. Letzterer hat mit seinem Werk Die Strukturen wissenschaftlicher Revolutionen dem kritischen Rationalismus wohl am meisten zugesetzt. Nach Kuhn neigen wissenschaftliche Theorien dazu, ein sog. “Paradigma” zu bilden, das sich häufig resistent gegenüber widersprüchlichen Beobachtungen oder entgegengerichteten Theorien zeigt und sich damit der Falsifikation entzieht Ein neues Paradigma setzt sich daher erst durch, wenn die Forschergeneration abgetreten ist und ihren Einfluss nicht mehr geltend machen kann – und nicht milttels Falsifikation im laufenden Betrieb. Ähnlich äußerte sich zuvor Ludwik Fleck in seiner Wissenschaftstheorie, auf die sich Kuhn u.a. bezog.
Besonders pointiert ist die Kritik, die Elisabeth Ströker in Einführung in die Wissenschaftstheorie an Poppers Falsifikationsprinzip übt.
Man muss, um das zu sehen, nicht einmal darauf hinweisen, dass im wissenschaftlichen Alltag eine Vielzahl von Verfahren praktiziert werden, die nichts von einem Bemühen um Falsifizierung und nicht einmal von kritischer Prüfung zeigen, ja es nicht einmal als sinnvoll erscheinen lassen. So enthält etwa die Wissenschaft allenthalben Problemgebiete, deren Theoretisierung noch gar nicht weit genug fortschritten ist, um hier bereits an kritische Prüfungen denken zu lassen, ohne dass man ihre Bearbeitung deswegen als unwisenschaftlich, ihre Ergebnisse als nicht gültig würde verwerfen können. Auch scheint Popper als selbstverständlich vorauszusetzen, dass die Wissenschaft einen in jeder ihrer Entwicklungsphasen und in allen ihren Gegenstandsbereichen völlig eindeutigen und logisch klaren Zusammenhang von Sätzen bildet, dessen Systematik grundsätzlich durchschaubar ist, dessen Verästelungen und Verknüpfungen jedenfalls nach strengen, methologisch einsichtigen und stets rationaler Kritik standhaltenden Prinzipien herstellbar wie auch eventuell auflösbar sind und die speziell auf eine Ordnung verweisen, welche sich bestenfalls in einem geschlossenen System finden ließe. Dass die Wissenschaft eine solche Systematik anstrebt und sie an einzelnen Stellen auch erreicht hat, ist so wenig bestreitbar, wie es unzweifelhaft eine wissenschaftstheoretische Fiktion ist, zu meinen es spiegele ein “fertiges” Satzsystem auch den langwierigen Forschungsprozess wider, in dem er gewonnen wurde.
In letzter Zeit ist die Kritik nach meinem Eindruck nicht unbedingt leiser, wohl aber “objektiver” geworden, wie z.B. Jörg Friedrich in Heureka. Evidenzkriterien in der Wissenschaft – Ein Kompendium für den interdisziplinären Gebrauch
Und C. Giovanni Galizia formuliert in demselben Buch seine Einwände am Beispiel seiner Disziplin, der Biologie.
Bei aller berechtigten Kritik haben die Aussagen Poppers zum Abgrenzungsproblem m.E. nach wie vor Gültigkeit.
Diese Haltung kommt in der Ökonomie nach wie vor zu kurz. Die Theorien werden dogmatisch runter gebetet, ganz gleich, was die Empirie dazu sagt. Nicht ohne Ironie bezeichnet der kritische Rationalist Hans Albert diese Denkhaltung auch als Modell-Platonismus. Eine Wissenschaft, die nicht wie von Popper beschrieben, zur Debatte bereit ist, gibt sich selbst auf und wird zum reinen Dogma und Offenbarungswissen. Das trifft derzeit vor allem auf die herrschende Lehren in der Ökonomie zu. Vgl dazu: Wirtschaftswissenschaften. Anpassung oder Paradigmenwechsel? (Ringvorlesung Plurale Ökonomik, Falsification in Economics
Auch den Rechtswissenschaften lassen sich einige Anregungen entnehmen, zumindest in der Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung von Robert Alexy.
Im Kapitel “Die Funktion der Dogmatik” schreibt Alexy:
Die Gründe für die neue Lösung müssen so gut sein, dass sie nicht nur die neue Lösung, sondern auch den Bruch mit der Tradition rechtfertigen. Es gilt also das Perlemansche Trägheitsprinzip. Derjenige, der eine neue Lösung vorschlägt, trägt die Beweislast. …
Die meiner Ansicht nach interessantesten Gedanken in der Diskussion stammen jedoch von dem Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould.
Unter Berufung auf Charles Sanders Peirce warnt Gould vor den Gefahren einer dogmatischen Weltanschauung und plädierte wie dieser für die Abduktion.
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Ist das Forschung oder kann das weg?