Von Ralf Keuper
Spätestens seit dem Buch Die Schlafwandler des australischen Historikers Christopher Clark bewegt die Frage der Kriegsschuld die Gemüter.
Die Zeit scheint gekommen zu sein, die These von der Hauptschuld des Deutschen Reiches am Ausbruch des 1. Weltkrieges, die Fritz Fischer bereits in den 1960er Jahren formulierte, in ein anderes Licht zu rücken.
Demnach sind die Nationalstaaten Europas synchron in die „Ur-Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts geschlittert; eine Auffassung, die sich schon während der 1920er Jahre zu verbreiten begann. Einen Allein- oder Hauptschuldigen gebe es daher nicht.
Auch Herfried Münkler äußert sich in einem Interview mit der FAZ zu der Schuldfrage ähnlich wie Clark (ebenso Helmuth Kiesel). Laut Münkler wurde der Einfluss des Militärs auf die Politik des Kaiserreiches bisher überschätzt. So habe Reichskanzler Bethmann-Hollweg quasi bis zuletzt gehofft, den Krieg vermeiden zu können. Erst als er über einen Spion von den britisch-russischen Marinegesprächen erfuhr, deren Existenz ihm auf Nachfrage beim englischen Außenminister Grey geleugnet wurde, habe er seine Haltung geändert.
Demgegenüber weist Wolfram Wette darauf hin, dass sowohl das Militär als auch die politische Führung bereits Jahre vor 1914 gezielt auf den Krieg hingearbeitet haben; eine Position, die auch Sebastian Haffner vertrat, und für die es nach wie vor eine erdrückende Anzahl von Belegen gibt, wie u.a. aus dem Dokumentationsfilm Der letzte Tanz des Kaisers hervorgeht. Darin sagt der Historiker John Röhl, dass der Kaiser sich bereits im November 1912 für den Krieg entschieden hatte und nur noch den Zeitpunkt offen ließ.
In den letzten zwei Jahren vor 1914 wurden sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland geheime Treffen zur Kriegsvorbereitung abgehalten. Den entscheidenden Zug machte jedoch das Deutsche Kaiserreich. Nah an dieser Position bewegt sich Gordon A. Craig in seinem Werk Über die Deutschen in dem Kapitel Militär.Das Vorgehen der deutschen Militärführung stützte sich auf den aus dem Jahr 1905 stammenden Schlieffen-Plan. Dieser sah vor, einen langandauernden Zwei-Frontenkrieg zu verhindern, indem Frankreich quasi im Eilverfahren besiegt werden sollte, um sich dann Russland zuzuwenden. Leider hatte der Plan einen kleinen Schönheitsfehler, da er den Durchmarsch durch Belgien beinhaltete. Nur stand Belgien im Jahr 1914, anders als noch 1905, unter dem Schutz von Großbritannien, das in diesem Fall zu einem Kriegseintritt gezwungen war. Trotz dieser neuen Ausgangslage hielt die deutsche Militärführung blind an dem Schlieffen-Plan fest, was nicht wenige, wie beispielsweise Sebastian Haffner, für den entscheidenden Fehler hielten, was er m.E. auch war bzw. ist. Haffner schreibt:
Wie war das möglich? Die Antwort, die fast unglaubliche Antwort, ist, dass der deutsche Generalstab für einen europäischen Zwei-Fronten-Krieg im Jahre 1914 keinen anderen Plan besaß als den sogenannten Schlieffenplan, der im Osten die Defensive und notfalls sogar den Rückzug vorsah, im Westen aber die Offensive zur schnellen Niederwerfung Frankreichs, und zwar unter Verletzung der von England, übrigens auch von Deutschland, garantierten Neutralität Belgiens. Ohne jede Rücksicht auf die politische Lage musste Deutschland also, nach dem Willen seines Generalstabs, im Falle eines Krieges das Schwergewicht seiner Kriegsführung in den Westen legen und England in den Krieg hineinziehen. Einen anderen Krieg als einen Westkrieg gegen England und Frankreich konnte Deutschland 1914 gar nicht führen; es hatte sich selbst jede andere Möglichkeit abgeschnitten. (in: Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg)
Nach dieser Weichenstellung waren alle weiteren Anstrengungen des deutschen Heeres nur noch ein Aufbäumen gegen die sichere Niederlage.
Sie war alleine schon deshalb unausweichlich, da Deutschland über kurz oder lang nicht die ausreichende Menge an Soldaten, Material und vor allem: Nahrung hatte, um einen langandauernden Krieg durchstehen zu können; ein Punkt, den u.a. Martin van Creveld in seinem Buch Die Gesichter des Krieges oder Felix Somary in seinen Erinnerungen aus meinem Leben hervorheben. Ähnlich äußert sich Herfried Münkler in dem erwähnten Interview.Es führt daher kein Weg an der Erkenntnis vorbei, die Haffner in die Worte fasste:
Entscheidende Fehler im gesamtstrategischen Konzept sind durch noch so glänzende Detailleistungen im operativen Bereich nicht wieder einzuholen. (ebd.)
Das gilt übrigens nicht für für die Militärstrategie.
Für gewagt halte ich die Aussage Münklers, der deutsche Wohlfahrtsstaat sei erst 1918 als Folge des Krieges entstanden. Diese Sicht entspricht nicht den Tatsachen, da nach allgemeiner Auffassung die Geburtsstunde der Deutschen Sozialversicherung im Jahr 1883 noch unter Bismarck schlug.
Sicherlich tragen die Schriften von Clark und Münkler dazu bei, ein differenzierteres Bild der Zeit vor dem Ausbruch und während des 1. Weltkrieges zu zeichnen. Ebenso trifft Deutschland nicht die alleinige Schuld am Ausbruch des 1. Weltkrieges – die Hauptschuld liegt allerdings beim Deutschen Reich. Hier ist die Faktenlage nach wie vor eindeutig; da hilft kein Relativieren. Ein große Mitverantwortung am Ausbruch des 1. Weltkrieges trägt auch, was gerne übersehen wird, Österreich-Ungarn unter Kaiser Franz-Joseph I. . Ohne sein Ultimatum wäre die Kettenreaktion ausgeblieben. Allerdings wurde er von seinem Außenminister getäuscht, der dem zögernden Kaiser von einem serbischen Angriff berichtete, der nie stattfand.
Ob es nicht trotzdem irgendwann zu einem Krieg gekommen wäre, steht auf einem anderen Blatt.
Nachtrag:
In der SZ vom 05.03.2014 macht der bereits erwähnte John Röhl in dem Beitrag Der Wille zum Angriff noch einmal klar, dass die von Clark und Münkler vorgebrachten Argumente nichts an der erdrückenden Faktenlage ändern:
Dies ist eine nicht unbedenkliche Entwicklung, denn seit den bahnbrechenden Arbeiten von Fritz Fischer und Imanuel Geiss, die mit unwiderlegbaren Dokumenten aus den Archiven das Ausmaß der Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland offenlegen, herrscht in der internationalen Forschung Übereinstimmung über die führende Rolle, die die Berliner Regierung bei der Verursachung des Weltkriegs gespielt hat.
Röhl führt in dem Beitrag mehrere Beispiele an, die diese Sichtweise stützen.
Eine andere Sicht vertritt der Autor im letzten Drittel der Filmdokumentation 1914 Die Ursachen des ersten Weltkrieges und der Schlieffenplan. Dagegen wiederum: Der Weltkrieg beginnt – Wie Europa ins Unglück stürzte I DER ERSTE WELTKRIEG – Woche 1
Update 1.11.22
Nach der Lektüre von Kaiserdämmerung ergibt sich für mich ein anderes Bild. Dazu später mehr.
Weitere Informationen:
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Krieg ist das Ende aller Pläne – Der Schlieffen-Plan von 1905 (dctp.tv)