Von Ralf Keuper
Dass Historiker Bücher schreiben können, die wissenschaftlich und unterhaltsam zugleich sind, beweist Steffen Patzold mit seiner Biografie von Einhard, der selber als Biograf Karls des Großen in die Geschichte eingegangen ist. 
Da die historische Quellenlage zu Einhards Leben vergleichsweise dünn ist, baut Patzold auf den wenigen Stücken seine Erzählung auf. Im Epilog stellt Patzold selber die Frage, ob die von ihm gewählte Vorgehensweise der eines seriösen Historikers würdig ist:

Darf ich das? Darf ich in Einhards Kopf kriechen? Darf ich seine Ideen und Gedanken zu lesen suchen? Darf ich seine Überzeugungen, Interessen, Motive zu kennen behaupten? .. Darf ich, ein Historiker im 21. Jahrhundert, das Leben eines Zeitgenossen Karls des Großen in solcher Weise erzählen? .. Der Held dieses Buches ist mein Geschöpf. Er kommt nicht ohne Voraussetzungen aus, die aus meiner Gegenwart erwachsen sind, aus meiner Lebenswelt im Deutschland des frühen 3. Jahrtausends. 

Da sage ich: Ja, darf er. 
War es je anders? Sind nicht die meisten Historiker, die Werke verfasst haben, die auch Jahrzehnte, Jahrhunderte später noch zu lesen lohnen, auf dieselbe Weise verfahren? Selbst bei Biografien zeitgenössischer Personen gelingt die Trennung zwischen “Dichtung” und “Wahrheit” wohl nur selten. Jeder Biograf interpretiert in die zu beschreibende Person immer auch seine spezifische Sicht mit hinein, die selber wiederum von der jeweiligen Zeitströmung beeinflusst wird. 
Das ist freilich kein Freibrief dafür, die Spekulationen ins Kraut schießen zu lassen und die reale Person gegen eine rein fiktive einzutauschen. 
Diesen Fehler hat Patzold m.E. nicht begangen.  
Das eigentlich Interessante an der Person von Einhard ist, dass wir es hier mit einem frühen Exemplar dessen zu tun haben, was wir heute als einen sozialen Aufsteiger bezeichnen würden. Von Geburt zwar nicht völlig unterprivilegiert, aber auch nicht aus der herrschenden Schicht stammend, gelang Einahrd sein Aufstieg zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit fast ausschließlich durch seine Intelligenz. Diese wurde im Kloster Fulda, zu jener Zeit ein geistiges Zentrum in Franken, erkannt und gefördert. Ohne selber in den geistlichen Stand zu treten, eignete Einhard sich in Fulda Kenntnisse und Fertigkeiten an, die ihm später am Hof Karls des Großen in Aachen sehr zugute kamen. Da selbst die Geistlichen gegen Ende des 8. Jahrhunderts häufig nicht in der Lage waren, die lateinischen Texte fehlerfrei zu zitieren oder selber zu reproduzieren, rief Karl der Große eine, wie wir heute sagen würden, Bildungsinitiative aus. Einhard war einer der wenigen zu der Zeit, der über die nötige sprachliche Begabung verfügte, um den Fortschritt der Bildungsbemühungen beurteilen und überwachen zu können. So gelangte Einhard an den Hof Karls des Großen, der gerne helle Köpfe um sich sammelte. Im Lauf der Zeit wurde Einhard einer der wichtigsten Ratgeber des Kaisers. Er verstand es, die damals schon reichlich vorhandenen Klippen am Hofe zu umschiffen. Insofern ist Einhard das Paradebeispiel einer “Grauen Eminenz”, wie sie von Alex Nathan beschrieben wurde. 
Erstaunlich ist, wie es Einhard gelang, über die Jahrzehnte seinen Einfluss auszubauen und bis zu seinem Tod auf konstantem Niveau zu halten, obwohl er sich gegen Ende seines Lebens offiziell aus der ersten Reihe in seine Heimat zurückzog. Brisant wurde seine Lage am Hof, als Ludwig der Fromme die Nachfolge Karls des Großen antrat. Einscheidende Ereignisse wie diese haben immer eine Machtverschiebung am Hof des Regenten zur Folge. Nicht selten verlieren die bis dahin tonangebenden Personen ihren Einfluss, oder gar ihr Leben. Wenn sie Glück haben, droht ihnen “nur” die Verbannung. So kam es, dass sich die Reihen der Weggefährten um Einhard lichteten und neue Akteure die Bühne betraten, ohne dass er selber ein Opfer des Wechsels wurde. Patzold schreibt diesen Umstand wohl zu Recht dem diplomatischen Geschick Einhards zu, d.h. Einhard vermied es, sich zu früh für eine Seite zu entscheiden, hielt sich somit alle Optionen offen, und selbst wenn er mal auf das falsche Pferd setzte, verstand er es, die Gunst des jeweils regierenden Königs/Kaiser zurückzugewinnen. Ein Grund dafür dürfte sein, dass Einhard aufgrund seiner Herkunft als kein ernstzunehmender Rivale angesehen wurde, der selber über genügend Macht, Geld und Einfluss verfügte, um die Machtbalance zu gefährden. Aber auch dann ist er eine für seine Zeit außergewöhnliche Persönlichkeit, die auch heute noch fasziniert, was in diesem Fall dem Erzähler, sprich Steffen Patzold zu danken ist. 
Das Buch von Patzold hat, neben einem ausgesprochen schönen Sprachstil, den Vorzug, dass die Kapitel vom Umfang her so gehalten sind, dass sie zum kontinuierlichen Lesen einladen, d.h. man verfällt nicht der Versuchung, alles in einem Rutsch zu lesen. 
Aber jede(r) so wie er oder sie mag. 

Weitere Informationen:

Die höfische Gesellschaft (Norbert Elias)

Vita Karoli – Aus dem Leben des Frankenkönigs

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