Politik bedeutete ihm rationaler Umgang mit der Macht, um sich dort behaupten zu können, wo der Gang der Dinge bestimmt wird und Energien ausgelöst werden, die nach außen und nach innen das Leben des Staates ausmachen. Seine Ideologie war einfach: Die Menschen sind so, wie sie immer waren, und reagieren darum, wie sie immer reagierten. Ihre Wünsche sind stets die gleichen: Sicherheit, Wohlstand, Geborgenheit des Leibes und der Seele und ein wenig Glück. Konrad Adenauer war kein sehr belesener Mann. Sein Vokabular war bescheiden und seine Gedankenwelt einfach. Er sah darin einen Vorzug für den Politiker, weil es ihm bei den Dingen des Staates nach seiner Ansicht um Probleme geht, die zu erfassen der gesunde Menschenverstand ausreicht und bei deren Meisterung hoher Gedankenflug nur schaden kann.
Er handelte nach der Forderung des Tages. Da die Tage sich wandeln, führte diese Maxime dazu, dass auch seine Politik sich wandelte, ohne dass er das Bedürfnis empfunden hätte, das gestern für notwendig Befundene heute zu widerrufen oder seine Gründe für den Wandel zu erläutern. Das war kein Zynismus, sondern das natürliche Verhalten eines Mannes, der weiss, dass der Staatsmann nicht viel anders tun kann, als die Zeit in ihrem Wandel mit seinem Tun zu begleiten.
Der Boden der Politik war für ihn ein Kampffeld, auf dem um das Recht und die Möglichkeit gestritten wird, den Gang der Geschichte zu bestimmen. Das Parlament war für ihn eine Kampfbahn, auf der es darum geht, sich gegen seine Gegner zu behaupten und sie in die Schranken ihrer Machtlosigkeit zurückzuweisen. Er versicherte oft genug, man dürfe bei der Auswahl der Mittel nicht „pingelig“ sein. Er scheute keine List und konnte sich, wenn der erstrebte Erfolg erzielt worden war, mit seinen Widersachern schmunzelnd über den gelungenen „Kunstgriff“ unterhalten. In kleinen Dingen war er leicht kompromissbereit; worauf es ihm ankam, war der Durchstoß bis zu dem Punkt, von dem aus der Aufmarsch zum nächsten Vorstoß gesetzt werden konnte. …
Die Persönlichkeitsrechte waren für ihn keine philosophischen oder ethischen Postulate, sondern die praktischste, auf der Erfahrung von Generationen beruhende Form, eine Ordnung ohne Furcht vor Not und Gefahr einzurichten, darin jeder nach seinem Vermögen Erfolg haben kann. ..
Den Obrigkeitsstaat alter Ordnung mochte er nicht, doch er glaubte, dass gerade in einer Demokratie den emotionalen Faktoren Kräfte und Institutionen die Waage halten müssen, die die Staatsräson verkörpern und Überlieferungen lebendig halten. Zu seinen Grundüberzeugungen gehörte, dass der Staat ein fruchtbares Verhältnis zu den Kirchen finden müsse, aber er war nicht klerikal. In policis habe die Kirche weder ja noch nein, sondern bestenfalls Amen zu sagen – diese Formel gebrauchte er gelegentlich. …
Was ein Mann für die Geschichte eines Volkes bedeutet, weisen nicht die verschlungenen Linien seines Innenlebens aus, sondern die Spuren, die sein Wirken hinterließ. Diese Spuren zeigen Konrad Adenauer als einen Mann, dessen politische Grundentscheidung für Deutschland das Geschick unseres Volkes für lange Zeiträume geprägt hat und darüber hinaus auch die Möglichkeiten und Wege eines europäischen Staatensystems nachhaltig bestimmte. Er war, was Goethe „eine Natur“ nannte: Hüter des Bestehenden beim umprägenden Durchgang durch das Tor, das in die Zukunft führt. Darum konnte er die Welt, in der er wirken wollte, sich so anverwandeln, dass Zustimmung und Ablehnung sich je und je mit seiner Person verbanden. Mochte geschehen was auch immer, „er“ hatte das Verdienst, „er“ trug die Schuld. So machten ihn Freunde und Gegner zum Mann der Stunde.
Quelle: Carlo Schmidt – Erinnerungen