Von Ralf Keuper
Der Regierungsstil von Kanzlerin Merkel war bisher nach landläufiger Meinung von einem gewissen Pragmatismus geprägt. Kritiker sprechen dagegen seit längerem vom Sich Durchwursteln (Muddling Through). Einige nennen es schlicht Opportunismus.
Nun ist es für einen Spitzenpolitiker, um so mehr für eine Bundeskanzlerin, gewiss nicht immer einfach, die Balance zwischen Pragmatismus, Idealismus und Opportunismus zu finden. Es wäre ungerecht, der Kanzlerin vorzuwerfen, sich bei ihren Entscheidungen von Stimmungen und dem Willen zur Macht leiten zu lassen. Das taten vor ihr bereits Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. In Sachen Pragmatismus dürfte Konrad Adenauer wohl unerreicht sein. Sein langjähriger Wegbegleiter Carlo Schmid, seinerzeit einer der führenden Sozialdemokraten, beschrieb Adenauers Regierungsstil einmal so:
Politik bedeutete ihm rationaler Umgang mit der Macht, um sich dort behaupten zu können, wo der Gang der Dinge bestimmt wird und Energien ausgelöst werden, die nach außen und nach innen das Leben des Staates ausmachen. Seine Ideologie war einfach: Die Menschen sind so, wie sie immer waren, und reagieren darum, wie sie immer reagierten. Ihre Wünsche sind stets die gleichen: Sicherheit, Wohlstand, Geborgenheit des Leibes und der Seele und ein wenig Glück. Konrad Adenauer war kein sehr belesener Mann. Sein Vokabular war bescheiden und seine Gedankenwelt einfach. Er sah darin einen Vorzug für den Politiker, weil es ihm bei den Dingen des Staates nach seiner Ansicht um Probleme geht, die zu erfassen der gesunde Menschenverstand ausreicht und bei deren Meisterung hoher Gedankenflug nur schaden kann.
In seinem noch heute lesenswerten Vortrag Politik als Beruf machte Max Weber drei Qualitäten aus, über die ein Spitzenpolitiker im richtigen Maß verfügen sollte:
Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine »Sache«, an den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist. Nicht im Sinne jenes inneren Gebarens … : eine ins Leere verlaufende »Romantik des intellektuell Interessanten« ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl. Denn mit der bloßen, als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst an einer »Sache«, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht. Und dazu bedarf es – und das ist die entscheidende psychologische Qualität des Politikers – des Augenmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der Distanz zu den Dingen und Menschen. »Distanzlosigkeit«, rein als solche, ist eine der Todsünden jedes Politikers und eine jener Qualitäten, deren Züchtung bei dem Nachwuchs unserer Intellektuellen sie zu politischer Unfähigkeit verurteilen wird. Denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden können? Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele. Und doch kann die Hingabe an sie, wenn sie nicht ein frivoles intellektuelles Spiel, sondern menschlich echtes Handeln sein soll, nur aus Leidenschaft geboren und gespeist werden. Jene starke Bändigung der Seele aber, die den leidenschaftlichen Politiker auszeichnet und ihn von den bloßen »steril aufgeregten« politischen Dilettanten unterscheidet, ist nur durch die Gewöhnung an Distanz – in jedem Sinn des Wortes – möglich. Die »Stärke« einer politischen »Persönlichkeit« bedeutet in allererster Linie den Besitz dieser Qualitäten.
Was den Punkt Leidenschaft betrifft, maße ich mir kein Urteil an. Ähnliches gilt für den Punkt Verantwortungsgefühl, obschon das Handeln der letzten Zeit hier m.E. das nötige Maß vermissen lässt. Gravierende Defizite sind jedoch beim Punkt Augenmaß bzw. der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe und der nötigen Distanz zu den Dingen auf sich wirken zu lassen, nicht mehr zu übersehen. Hektik und eine Politik des Basta im Sinne von „Es gibt keine Alternative“ oder „Es gibt keine Obergrenze“, offenbaren neben einem bedenklichen Realitätsverlust auch totalitäre , plutokratische Züge.
Kurzum: Eine Kanzlerin mit mangelndem Augenmaß.
Weitere Informationen:
Wenn nicht Ethik, sondern Pragmatik als Richtschnur dient
Interview zu Merkel: „Imperialismus mit Tarnkappe“
Tipp: Die "Welt" hat eine ausführliche, großartig geschriebene Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik der "wir-schaffen-dass"-irgendwie-Kanzlerin veröffentlicht – http://www.welt.de/politik/deutschland/article148588383/Herbst-der-Kanzlerin-Geschichte-eines-Staatsversagens.html
Obwohl der Inhalt nicht gerade schön, ist es doch erleichternd so etwas in unserer Presse zu lesen.