Von Ralf Keuper

Da hat man tausende von Seiten (organisations-)soziologischer Literatur gelesen und stößt dann eher beiläufig auf einen Beitrag, der einem die Bedeutung der Systeme und ihrer Teile in einem anderen Licht erscheinen lässt.

So war es jedenfalls bei mir.

Die besagte Schrift mit dem eher unverdächtigen Titel Reziprozität und Autonomie in der funktionalen Theorie stammt von dem amerikanischen Soziologen Alvin W. Gouldner. Sie umfasst weniger als dreißig Seiten, die es dafür aber in sich haben.

Zu Beginn erläutert Gouldner, was sein Verständnis des Systems von den bis dahin und auch noch weitgehend gültigen Interpretationen unterscheidet, wobei er die Bedeutung der “Funktionalen Autonomie” hervorhebt:

Wir haben hier eine begriffliche Bestimmung der “Systemhaftigkeit” unter Rückgriff auf die Vorstellung funktionaler Autonomie angeregt, weil der Begriff der Interdependenz, der gewöhnlich zur Definition von Systemen genutzt wird, den Blick vorrangig auf das “Ganze” oder die Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen und ihre reziproke Abhängigkeit lenkt. “Funktionale Autonomie” jedoch lenkt die Aufmerksamkeit auf die >Bestandteile des Systems< – wenn auch in ihren Beziehungen zueinander. Dieser Begriff betont die Möglichkeit, dass jeder System-Teil eines anderen stark (oder aber auch kaum) bedürfen kann und dass die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Elemente nicht symmetrisch sein muss. Kurz gesagt, er konzentriert die Aufmerksamkeit auf Wechselbeziehungen, in denen die funktionale Reziprozität asymmetrisch sein kann und verweist jede Analyse damit auf die Beziehungen, die Spannung produzieren.

Organisation nach diesem Verständnis, d.h. unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Teile durchaus autonom sein können, ohne das System als Ganzes gleich infrage zu stellen und in seiner Existenz zu bedrohen, fordert gerade dazu auf, Spannungen und Konflikte als Chance zu sehen, statt sie mit allen Mitteln unterbinden zu wollen.

Die Annahme, die Teile des Systems seien für ihren Fortbestand in gleicher Weise abhängig, bedarf, sofern man von einer Funktionalen Autonomie der Teile ausgeht, einer Revision.

Funktionale Autonomie bedeutet jedoch nicht, dass ein System-Teil ganz auf sich allein gestellt überlebensfähig wäre. Allerdings verfügen System-Teile nach Gouldner über drei Hauptstrategien, die ihnen dazu verhelfen, die Abhängigkeit von dem “Muttersystem” auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Ein Mittel ist die Risikostreuung oder Diversifikation.

Aber auch dem “Muttersystem” stehen Strategien zur Verfügung, mit dem es verhindern kann, dass die von den System-Teilen ausgehenden Spannungen und die damit verbundenen Fliehkräfte zur Auflösung führen.

Eine weitere Möglichkeit für das Muttersystem, der Gefahr des Zerfalls bzw. Desorganisation zu entgehen, besteht in der “Entdifferenzierung”:

Einem System, dessen Teile eine gewisses Maß funktionaler Autonomie besitzen, steht jedoch eine dritte Reaktionsmöglichkeit auf einen externen desorganisierenden Reiz zur Verfügung: die Entdifferenzierung. Das heißt, das System kann auf gehobene Formen der Integration verzichten und seinen funktional autonomen Teilen erlauben, sich auf einer weniger komplexen Ebene umzugruppieren.

Auch hier ist der Gedanke leitend, dass die zunehmende funktionale Autonomie der Teile dafür eingesetzt werden kann, das System wandlungsfähig zu erhalten und damit seine Fortdauer zu sichern. In gewisser Weise das, was die alten Römer und Machiavelli mit Divide et impera meinten. Den System-Teilen muss dabei zugebilligt werden, ein Maß verschiedener, auch überschüssiger Fähigkeiten auszubilden, um nicht durch Einseitigkeit austauschbar zu werden und die eigene Existenz zu gefährden. In etwa das, was Stephen Jay Gould als Exaptation oder Volkmar Vareschi als Adiaphora bezeichnet haben.

Die Entdifferenzierung, d.h. die Gewährung Funktionaler Autonomie der System-Teile sorgt dafür, dass sich das System fortlaufend erneuern kann und damit verhindert, dass das System von äußeren Ereignissen völlig aus dem Gleichgewicht geworfen bzw. auf dem falschen Fuß erwischt wird.

Ein Blick auf die Themen Systemrelevanz, Netzwerkorganisation, Europäische Einigung, Collaboration Economy, Internet-Theorie, Governance usw. zeigt m.E., dass die Gedanken Gouldners alles andere als aus der Mode gekommen sind.

Quelle: Moderne amerikanische Soziologie. Hrsg. von Heinz Hartmann

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