Von Ralf Keuper
Die Bedeutung der Stadtforschung wird häufig unterschätzt. Das verwundert um so mehr, als dass der Forschungsgegenstand Stadt vielfältiges Anschauungsmaterial dafür liefert, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist. Die Forschungsergebnisse lassen keineswegs nur Rückschlüsse auf die untersuchten Städte und die umliegenden Regionen zu: Die Stadt als Spiegelbild einer immer globaler werdenden Zivilisation. 
In den vergangenen Jahren wurde die Diskussion von wenigen Forschern und Autoren dominiert, wie Richard Florida mit seinem Konzept der Kreativen Stadt , Doug Saunders mit seinem Modell der Arrival City oder Janice Perlman mit ihrer Vorliebe für informelle Siedlungen. Daneben kursieren noch weitere Ideen, wie die der Charter City von Paul Romer oder, noch weiter gespannt, Peter Thiels Vorstellung von mobilen Staaten außerhalb der Hoheitsgewässer. Und natürlich nicht zu vergessen: die Grande Dame der Stadtforschung, Saskia Sassen
Insbesondere Richard Floridas Idee der Kreativen Stadt fällt in Zeiten des Startup-Kults mittlerweile auch hierzulande auf fruchtbaren Boden. Städte, die in der digitalen Ökonomie die klügsten und kreativsten Köpfe anziehen wollen, müssen ein Umfeld bieten, das kulturell anspruchsvoll ist und über eine herausragende Infrastruktur (Internet, Bildung, Gesundheit, Gastronomie, Wohnen, Verkehr) verfügt. Leitende Idee ist auch hier, wie in fast allen anderen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft, das Wettbewerbsprinzip. Nur die attraktivsten Städte haben eine Chance, im globalen Wettbewerb zu bestehen. 

Ewald Engelen, Sukhdev Johal, Angelo Salento und Karel Williams zeichnen in ihrem Beitrag How to build a fairer City folgendes Bild: 

The tradable competitive sphere has all the key sectors which associate themselves with a high-income present and a glamorous future. Here we have wholesale finance and markets, the prestige end of business services in accountancy, law and consulting, anything digital or supposedly knowledge-based from media to advertising, together with the parts of manufacturing which have high tech associations. The object of competitive global city policy is to attract more of these glamour activities to locate in their city, adjacent to a hub international airport.

Dieser doch etwas einseitigen Sicht stellen die Autoren ihr Konzept der Grounded City zur Seite- bzw. gegenüber. 
Statt den Wettbewerbsgedanken zum obersten Prinzip der Stadtentwicklung zu erheben, plädieren sie in ihrem Manifest für eine differenziertere, umfassendere Sicht:

This manifesto argues for a different kind of imaginary: the “grounded city”. The success of a city should not be measured externally by relative size and the ability to come first ahead of equals; rather, the measure should be a city’s internal ability to distribute mundane goods and services which ensure the civilised life of the largest number of its people.

Als Folge der Finanzkrise und der Flucht zahlreicher Konzerne in sog. Steueroasen sowie der Konkurrenz der Finanzzentren untereinander, fällt es den Kommunen immer schwerer, die nötigen Investitionen für die Erhaltung der Infrastruktur und für bezahlbaren Wohnraum zu tätigen. Diese Entwicklung ist um so bedenklicher, da die Steuern und Abgaben der Bürger kontinuierlich ansteigen:

Taxes on households are further increased by the way in which big firms benefit from, but hardly contribute to, the maintenance and renewal of the material and immaterial infrastructures of our cities. Similarly, the competition between national financial centres accelerated regulatory capture and contributed materially to lax regulation before the crisis. Again, the benefits were private and concentrated, while the costs were public and diffuse.

Das Konzept der Grounded City grenzt sich bewusst von den Vorstellungen der Vertreter des linken und rechten politischen Spektrums ab:

The grounded city is a fairer city delivered through radically different policies, necessary because the current packages of policy fixes for unfairness are inadequate to the scale of the problems and their drivers. In centre-right and centre-left variants, these policy fixes are set in a frame of managing internal competition: the centre-right backs jobs and schooling as a basis for more equal competition; the centre-left favours an overlapping package of schooling plus minimum wages and some redistribution through family credits and such like to compensate for disadavantage. Either way, the conscience of our competitive age is about “equal opportunities” through policy remedies which, in our view, are necessary but not sufficient for a better, fairer city.

Für die Entwicklung einer Grounded City hat die Versorgung der “normalen” Stadtbewohner mit den grundlegenden Gütern und Dienstleistungen vorrangige Bedeutung: 

The question then becomes: to what extent is that city providing (reasonably priced or decommodified) material conditions of civilised life? For example, take five key domains of foundational security (housing, utility supply, food, health/social care and education) and then ask: to what extent are adequate and reasonably priced key services in each domain available to ordinary citizens and, specifically, how far down the income scale to median incomes or below does this provision extend? It should be clear that cities which rank high on global competitiveness often rank low on one or more basic foundational criteria, as London does on housing. Specifics and time are both crucial because the basic assumption is that policy is about cities doing do more and better in specific domains over time to improve the local offer of foundational goods and services.

Um dieses Ziel zu erreichen bzw. ihm näher zu kommen, ist jedoch, laut Ansicht der Autoren, eine größere Experimentierfreude nötig. 

The grounded city is neither an insoluble city problem in the 1970s sense, nor a city black box in the 2000s sense delivering pleasant surprises. The grounded city is instead a site of diverse experiments and learning which could and should be publicly led.

Freilich, man braucht den Autoren nicht in allen Punkten zuzustimmen. Jedoch legen sie den Finger in die Wunde. An der Entwicklung der Städte wird sich vielleicht mehr noch als in der Vergangenheit ablesen lassen, wie eine Gesellschaft zusammengesetzt ist und welche offenen und verborgenen Grenzen durch sie hindurch verlaufen und nicht zuletzt: wer am meisten von dem Status Quo profitiert.  
Alles in allem ein spannendes Thema, zu dem in letzter Zeit einige interessante Artikel erschienen sind, wie das Versprechen der Städte. Etwas älter, aber nicht minder lesenswert, ist die empirische Untersuchung Culturally clustered or in the cloud? Location of internet start-ups in Berlin von Kristoffer Möller.
Daneben existieren die Klassiker der Stadtforschung, wie vor allem Georg Simmels Aufsatz Die Grosstädte und das Geistesleben.
Bei aller Vorliebe für das Leben in der großen Stadt, sollten das Kleinstadt- und Dorfleben nicht zu kurz kommen. Eine Gesellschaft braucht eine gesunde Mischung aus Großstädten, Mittelstädten, Kleinstädten und Dörfern, wie sie gerade für Deutschland charakteristisch ist. 
In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind die Bücher Mittelstadt. Urbanes Leben jenseits der Metropole von Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.) und Das Dorf: Landleben in Deutschland von Gerhard Henkel sowie Die deutsche Stadt im Mittelalter von Evamaria Engel
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