Das Schweigen ist heute das einzige Phänomen, das “ohne” Nutzen ist. Es passt nicht in die Welt des Nutzens von heute, es ist nichts als “da”, es scheint keinen anderen Zweck zu haben, man kann es nicht ausbeuten. Alle andern großen Phänomene sind von der Welt des Nutzens annektiert. Selbst der Raum zwischen Himmel und Erde ist nur noch wie ein heller Schacht, der dazu dient, dass die Flugzeuge durch ihn fahren. Das Wasser und das Feuer, die Elemente, sind hineingeholt in die Welt des Nutzens, sie werden nur bemerkt, insofern sie Teile dieser Welt des Nutzens sind, sie haben kein Dasein mehr für sich. Das Schweigen aber steht außerhalb der Welt des Nutzens, man kann nichts mit ihm anfangen, es kommt im wahren Sinne des Wortes nichts heraus beim Schweigen, es ist “unproduktiv”, darum gilt es nicht. Und doch geht mehr Helfendes und Heilendes vom Schweigen aus als von allem, was nutzbar ist. Es, das Zwecklose, stellt sich neben das allzu Zweckhafte, plötzlich erscheint es neben ihm, es erschreckt durch seine Zwecklosigkeit, es unterbricht den Ablauf des allzu Zweckhaften. Es stärkt das Unberührbare in den Dingen, es mildert den Schaden, den die Ausbeutung an den Dingen anrichtet, es macht die Dinge wieder ganz, indem es sie von der Welt des zersplitterten Nutzens in die Welt des ganzes Daseins zurücknimmt. Es gibt den Dingen von der heiligen Nutzlosigkeit, denn das ist das Schweigen selber: heilige Nutzlosigkeit.

Quelle: Max Picard. Die Welt des Schweigens
Ein Gedanke zu „Von der heiligen Nutzlosigkeit des Schweigens (Max Picard)“
  1. Das Lob des Schweigens geht unter den heutigen Bedingungen einem fast zu leicht von den Lippen. Aber es gibt viele Sorten von Schweigen – das trotzige Schweigen, das verzweifelte Schweigen, das rätselhafte Schweigen, das verlogene Schweigen, das verliebte Schweigen, das innige Schweigen, das konzentrierte Schweigen, das ergriffene Schweigen, das sehnsüchtige Schweigen, das taktische Schweigen, das bedeutungsvolle Schweigen und es gibt sichelrich noch einige andere Sorten des Schweigens, die weniger schweigsam sind, als es scheint. Nur selten ist das Schweigen wirklich stumm und bedeutunglos, sozusagen buddhistisch. Dazu darf es nicht nur äußerlich sein ("der redet ja nichts"), sondern auch innerlich, also auch im eigenen Kopf ein Schweigen einkehrt und nur noch etwas "stumm" gehört, gesehen, gefühlt, gelesen, empfunden wird. Damit die innere Rede nicht immer gleich auf alles zugreift und es mit Begriffen und Intentionen überwältigt. Dieses Schweigen hat eine Verwandtschaft mit dem Dösen im Schatten und braucht Stille. Aber dann … gibt es ein schöneres, ehrlicheres Schweigen als das Schweigen im Tiefschlaf? Vielleicht das intensive Lesen?

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