Von Ralf Keuper
Georg W. Oesterdiekhoff, der, wenn ich es richtig recherchiert habe, als Professor für Soziologie an der RWTH in Aachen lehrt (zuvor an der Uni Erlangen), verfolg mit seinem Buch Die geistige Entwicklung der Menschheit ein recht ambitioniertes Ziel. Nicht weniger als eine umfassende Theorie der menschlichen Entwicklung, die sich vor allem der Entwicklungspsychologie von Jean Piaget verpflichtet fühlt, präsentiert Oesterdiekhoff dem Leser. Ein Maßstab, hinter dem fortan nicht mehr zurückgegangen werden kann, will man nicht in den Zustand faktischer, selbstverschuldeter Unwissenheit zurückfallen.
Diese, zugegeben, etwas überspitzte Formulierung, soll verdeutlichen, welchen Anspruch Oesterdiekhoff an seine Theorie stellt.
Zentrale These seines Werkes wie auch seiner Forschungen überhaupt, ist, dass die Menschheit mit dem formal-operativen Denken einen, wenn nicht, den entscheidenden Schritt ihrer Entwicklung vollzogen hat. Dem stehen menschliche Gesellschaften gegenüber, die von einem präformalen Denken geprägt waren und zum Teil noch sind.
Neben Piaget orientiert sich Oesterdiekhoff an den Arbeiten von Max Weber, Ernst Cassirer, Norbert Elias, Claude Levy-Bruhl und James Frazer. Betont wird daher immer wieder die Schlüsselrolle, welche die Kultur für die geistige Entwicklung hat, womit er sich klar von biologischen oder anderen Interpretationen abgrenzt. Einen Relativismus der Kulturen, wie er u.a. von Franz Boas in die Anthropologie eingeführt wurde, lehnt er jedoch ab.
Die Positionen der zuvor genannten gleichen sich in den für ihn wichtigen Punkten.
Auf den nächsten 350 Seiten führt Oesterdiekhoff seine Gedanken noch weiter aus, wobei er immer wieder auf die genannten Autoren zurückkommt.
Dabei greift er zu z.T. recht problematischen Behauptungen, bei ihm jedoch im Gewand wissenschaftlicher Evidenz gehüllt.
Bei der Untermauerung seiner Theorie macht Oersterdieckoff auch vor dem Begründer der Logik, Aristoteles, keinen Halt. Auch dieser sei aus heutiger Sicht mit dem kognitiven Denkapparat eines Kleinkindes ausgestattet gewesen. Jeder Gymnasiast befände sich auf einem höheren Denkniveau.
Nicht viel anders versteht er die großen Wissenschaftler der folgenden Jahrhunderte – in etwa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Erst von dort an beginnt das formal-operationale Denken sich durchzusetzen.
Es wäre jetzt übereilt, Oesterdieckhoffs Ansatz wegen dieser Kritikpunkte in Bausch und Bogen zu verwerfen, hebt er doch nicht zu Unrecht die Bedeutung der kulturellen Evolution für das menschliche Denken hervor. Auch argumentiert er schlüssig und zitiert eine Vielzahl von Studien, um seine Argumentation zu stützen. Unstreitig ist, dass er seinen Stoff beherrscht und auf dem Gebiet nicht zu Unrecht als führende Autorität gilt.
Das kann jedoch nicht über einige, entscheidende blinde Flecken hinwegtäuschen. So entgegnet er dem Einwurf, der Holocaust und wie überhaupt der Nazi-Terror widerlege seine These vom Aufstieg der Zivilisation mittel formal-operationalen Denkens, mit dem schwachen Argument, dass in den 30er und 40er Jahren das formal-operationale Denken noch nicht vor kognitiven Verzerrungen gefeit gewesen sei. Das ist nach Karl Popper ein klarer Fall von Immunisierung. Aber selbst für die letzten Jahrzehnten lässt sich sein Befund mehr als anzweifeln. Der Bau der Atombombe schwebt nach wie vor wie ein Damoklesschwert über der Menschheit, ein Kurzschluss kann hier jederzeit katastrophale Folgen haben, die alle Fortschritte der Kultur und Wissenschaft mit einem Schlag zunichte machen. Das Verhalten der Akteure an den Börsen wie überhaupt während er Finanzkrise, nicht zuletzt auch in der aktuellen Eurokrise, lässt nicht unbedingt auf Höchstleistungen formal-operationalen Denkens schließen.
Weiterhin sei auf die Arbeiten und Studien von Jared Diamond verwiesen, der eine zu Oesterdiekhoff konträre Sicht vertritt und Intelligenz in einem anderen Licht sieht. Die empirischen Belege, die Diamond inzwischen vorlegen kann, können auch von der Entwicklungspsychologie nicht so einfach weggewischt werden. Über die Bedeutung der Mythen und Religion herrscht bereits seit Jahrhunderten, vielleicht noch länger, ein lebhafter Streit. Alles nur auf Kognition zu reduzieren, erscheint mir daher zu simpel.
Alles in allem ein in vielen Punkten wichtiger Beitrag, dessen impliziter Absolutheitsanspruch, u.a. wegen der genannten Mängel, in dieser Form jedoch zurückzuweisen ist.
Die Lektüre und Beschäftigung mit seinen Gedanken lohnt aber dennoch.