Es ist unmöglich, alles Wissen über eine reale Alltagssituation in ein System von Aussagen zu packen, alle relevanten Informationen niederzuschreiben. Die Welt ist zu komplex, man kann sie nicht vollständig beschreiben. …
Es gibt eine Variante menschlichen Denkens, die der künstlichen Intelligenz ähnlich ist – und das ist die akademische Intelligenz. Denken Sie doch nur daran, wie man sich bei Intelligenz-Tests verhalten soll. Vielschichtige Motive stören da nur. Das einzig legitime Ziel ist es, viele Punkte zu sammeln. Gefühle spielen keine Rolle, außer vielleicht das bittersüße Gefühl, das den Ehrgeiz begleitet. Es gibt keine Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, etwas Neues zu entdecken, und es gibt kaum Verbindungen zur nicht-akademischen Welt. …
Die menschliche Natur ist kompliziert und reizvoll, und wir können noch viel mehr über sie erfahren als wir bisher wissen. Ich bin allergisch gegen Leute, die meinen, sie wüssten schon alles und brauchten dieses Wissen nur noch in simple Lehrsätze zu fassen. Ich bin ziemlich sicher: Genau das ist immer und überall falsch. Menschen sind keine Maschinen. Geistiges Leben kann nicht mit der Lösung von Tests verglichen werden. Wir fangen doch gerade erst an zu ahnen, welche Fülle und Vielfalt das Leben in unserer komplexen Welt haben kann.
Quelle: Intelligenz – gibt’s die? Ein Gespräch mit Ulric Neisser, in: Wenn du denkst … , 1987